15. Jahrgang | Nummer 6 | 19. März 2012

W. G. Sebald: „Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman“

von Kai Agthe

Aus Anlass seines 10. Todestages erinnert eine Sammlung mit Gesprächen aus drei Jahrzehnten an W. G. Sebald, der im Dezember 2001 bei einem Verkehrsunfall in seiner englischen Wahlheimat starb. Der 1944 in Wertach im Allgäu geborene Schriftsteller kam spät zur Literatur, obwohl er dieser seit Studententagen eng verbunden war: Als Dozent und Professor für deutsche Literatur lehrte Sebald viele Jahre an der Universität Norwich. Sein literarisches Debüt gab er 1988 mit den drei Großgedichten „Nach der Natur“. Im Jahr 1990 folgte mit „Schwindel. Gefühle“ Sebalds erster Prosaband. Weiten Leserkreisen bekannt wurde der Autor spätestens 1992 mit den vier langen Erzählungen „Die Ausgewanderten“.
W. G. Sebald mochte seine Vornamen Winfried Georg nicht, ließ sie deshalb nur als Initialen auf seine Bücher setzen und sich von seinen Freunden „Max“ rufen. Seit 1966 in England lebend, schrieb er seine wissenschaftlichen Texte zwar in englischer, seine literarischen Werke aber nur in deutscher Sprache. Sebald weigerte sich, seine dickleibigen Bücher „Die Ringe des Saturn“ (1995) und „Austerlitz“ (2001) als Romane zu betiteln. Da seinen Büchern gründlich recherchierte (Lebens-)Geschichten zu Grunde lägen und er den Dialog nicht beherrsche, könne, so argumentierte er, bei seinen Büchern von Romanen keine Rede sein. Nach Erscheinen von „Die Ausgewanderten“ bekannte er: „Ich habe einen Horror vor allen billigen Formen der Fiktionalisierung. Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman.“
In den ersten Gesprächen des von Torsten Hoffmann zusammengestellten Interview-Bandes ist W. G. Sebald als Literaturwissenschaftler entweder Teil einer Gesprächsrunde (hier 1971 über Carl Sternheim) oder selbst Interviewer. So befragte er als Vertreter seiner Universität 1975 auch Reiner Kunze. Erst mit Erscheinen seines Buches „Schwindel. Gefühle“ 1990 wird W. G. Sebald für das Feuilleton ein begehrter Gesprächspartner. Was der Leser nicht aus den Büchern des Melancholikers über die Sebaldsche Poetik erfährt, das kann man hier lesen. So betrachtete der skrupulöse Dichter seine eigenen Arbeiten „mit einem gewissen Misstrauen“. Er konnte sich durchaus vorstellen, statt am Schreibtisch zu grübeln, im Treibhaus Gurken zu ziehen. „Wenn sie eine anständige Gurke züchten, dann gibt’s keine Diskussion drüber.“
Sebald hasste den deutschen Nachkriegsroman. Literarische Landmarken auf seinem Weg zum Schreiben waren für ihn neben den Autoren, über die er sich in mehreren Büchern auch essayistisch äußerte, Peter Weiss und Alexander Kluge. Er war ferner der Meinung, dass den Autoren des 20. Jahrhunderts die Sprachmächtigkeit abhanden gekommen sei, die noch den Schriftstellern des 19. – wie etwa Jean Paul und Kleist – gegeben war. Seine eigene Prosa stellt den geglückten Versuch dar, an diese Formen literarischen Erzählens anzuknüpfen.
Auch war W. G. Sebald der festen Überzeugung, dass Literatur, wie er in einem Interview 1993 äußerte, „zu einem nicht geringen Teil darin besteht, Gespräche mit Abgeschiedenen zu führen und sich auf den Weg zu den Nachtseiten des Lebens zu machen“. Den Toten – wie in „Austerlitz“ auch denen des Holocausts – eine Stimme zu verleihen, war W. G. Sebalds Bestreben. In einem Gespräch mit Sigrid Löffler wies er, ebenfalls im Jahr 1993, mit einigem Recht daraufhin, dass er, Winfried Georg Sebald, der erste nichtjüdische Autor gewesen sei, der literarisch an die ermordete Judenheit und die ausgelöschte jüdische Kultur erinnert habe.
Es ist zwar redlich, aber nicht eben leserfreundlich, dass jene Gespräche, die zunächst für den Hörfunk geführt wurden, hier ohne die nötige schriftsprachliche Glättung geblieben sind. Der Band ist aber zweifellos eine wichtige Ergänzung zu der bedeutenden Prosa W. G. Sebalds.

Torsten Hoffmann (Hrsg): W. G. Sebald. Auf ungeheuer dünnem Eis. Gespräche 1971 bis 2001, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2011, 288 Seiten, 9,99 Euro