von Edgar Benkwitz
Nach den Wahlen zu fünf Regionalparlamenten gab es in Indiens Hauptstadt Neu Delhi ein böses Erwachen. Die regierende Kongresspartei hatte gehofft, in den Teilstaaten ihre Positionen zu festigen und sich somit gute Ausgangspositionen für die allindischen Parlamentswahlen in zwei Jahren zu schaffen. Den erwünschten Erfolg gab es jedoch nicht. Lediglich im Kleinstaat Manipur an der Grenze zu Myanmar wurde die Partei im Regierungsamt bestätigt. Hingegen wackelt die Weiterführung der Regierung im Himalayastaat Uttarkharand, der „Heimat der Götter“, gewann sie doch hier mit nur einem Sitz Vorsprung. In Goa wurde die Kongresspartei abgewählt, und im wohlhabenden Punjab, der Heimat der Sikhs, erlitt sie starke Einbussen. Gut lief es auch nicht in Uttar Pradesh, wo ein Sechstel der indischen Bevölkerung lebt. Es ist die Wiege des politischen Indiens und seit jeher die Basis der Nehru-Gandhi-Familie mit ihrer Kongresspartei.
Die angestrebte Änderung der Machtverhältnisse in Uttar Pradesh fand zwar statt, aber nicht im Sinne der Kongresspartei. Trotz leichter Zugewinne – im Landesparlament mit 403 Sitzen ist sie nun mit 37 (vorher 22) Abgeordneten vertreten – verharrt sie weiter in der politischen Bedeutungslosigkeit. Der grosse Gewinner ist die regionale Samajwadi Party (SP), die mit 224 Sitzen beträchtlich über der absoluten Mehrheit liegt und nun die Regierung bilden kann. Sie verdrängte eine andere Regionalpartei aus dem Regierungsamt. Die Bahujan Samaj Party (BSP), die bis jetzt die absolute Mehrheit besass, muss sich nun mit nur 79 Mandaten begnügen. Es liegt nahe, sich an den Slogan „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ zu erinnern, nur die Etikette wurden ausgetauscht. Aber ist es so einfach? Die BSP, mit ihrer exzentrischen Parteiführerin Mayawadi – der „Königin der Unberührbaren“ wie sie oft in den Medien genannt wird – verlor das Vertrauen, weil sie ihre hochtrabenden Versprechungen auch nicht annähernd erfüllte. Stattdessen wirtschaftete sie in die eigenen Taschen und betrieb eifrig Selbstbeweihräucherung und Personenkult. Die SP als Wahlgewinner stützt sich in etwa auf die gleichen sozialen Schichten wie der Wahlverlierer, die BSP. Es sind die Armen und Ausgegrenzten, Angehörige niedriger Kasten und Kastenlose sowie Muslime. Deren Hoffnungen auf eine spürbare Verbesserung der primitivsten Lebensverhältnisse schwenkte von der BSP zur SP, die mit der Sozialdemokratie ähnelndem Gedankengut und einer jungen, nachrückenden Funktionärselite Eindruck hinterlassen konnte. Freilich war sie in Uttar Pradesh auch schon an der Macht und hat an den bestehenden Verhältnissen nichts geändert. Aber das scheint vergessen.
Beeindruckend – besonders auch im Vergleich zu Europa – ist die hohe Wahlbeteiligung. Sie reicht von etwa 62 Prozent in Uttar Pradesh bis zu 81 Prozent in Goa. Die Aktivierung der Wählermassen ist ein erfreulich zunehmender Trend bei den Landtagswahlen der letzten Jahre; legt sie doch Zeugnis von der Unzufriedenheit mit bestehenden Verhältnissen und dem Wunsch nach wenigstens minimaler Mitgestaltung ab. Die langen Schlangen vor den Wahllokalen zeigten vornehmlich Frauen (oft verschleiert) und jugendliche Erstwähler.
Für die Kongresspartei ist das Wahlergebnis in Uttar Pradesh besonders bitter. Mit Rahul Gandhi, Spross der Nehru-Gandhi-Familie, seit 2007 einer der Generalsekretäre der Partei, schickte sie einen erprobten Kämpfer ins Wahlgeschehen. Er wurde von hier vor drei Jahren mit überwältigender Mehrheit ins indische Parlament gewählt, ist bekannt und wird respektiert. Für ihn stand aber diesmal mehr auf dem Spiel. Führungskreise der Partei um seine Mutter Sonja Gandhi haben den 41jährigen nach den Parlamentswahlen 2014 als möglichen Premierminister ins Spiel gebracht . Er steht damit sozusagen unter Beobachtung, seine politische Zukunft wird an seinem jetzigen Auftreten gemessen. Indische Wahlbeobachter bescheinigten Rahul sehr grossen Einsatz, unermüdlich tourte er durch die Wahlbezirke und legte sich für die dortigen Kandidaten ins Zeug. Seit Mitte November absolvierte er 211 Wahlauftritte, darunter Grosskundgebungen mit Zehntausenden Teilnehmern. Er persönlich kam auch an, konnte begeistern, jedoch übertrug sich der Zuspruch der Massen nicht auf seine örtlichen Parteigenossen. Experten meinen, dass das negative Image der in Delhi regierenden Kongresspartei, die für Inflation, Preisauftrieb und Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht wird , durchschlug. Damit wurden die Wahlkandidaten der Kongresspartei identifiziert. Rahul lief so praktisch in sein eigenes Messer!
Aber ein Gandhi gibt nicht auf, diese Familie scheint aus einem besonderen Holz geschnitzt zu sein. In ersten Stellungnahmen versicherte Rahul, dass er auch in Zukunft seine in Uttar Pradesh begonnene Arbeit fortsetzen, das Gespräch mit den Armen suchen und sich um deren Lage kümmern wird. Das ist ihm abzunehmen, entspricht es doch den hehren Traditionen dieser Partei mit ihren grossen nationalen Vorbildern. Er versprach weiterhin, sich um die Erneuerung der Parteistruktur zu kümmern, da viele Funktionäre versagt hätten, Wahlkandidaten von den Wählern nicht akzeptiert wurden. Für einen Generalsekretär der Partei eigentlich selbstverständliche Worte, doch wird er das umsetzen können? Hier gilt es grosse Widerstände zu überwinden, werden doch die Positionen älterer Parteibonzen berührt, die ihre „Hausmacht“ in den Regionen nicht geschwächt sehen möchten. Rahul Gandhi könnte hier beweisen, dass er nicht nur ein guter Wahlkämpfer mit Einsatz und Charisma ist, sondern sich auch in der Führung der Kongresspartei durchsetzen kann. Diese Aufgabe ist untrennbar mit einer dringend notwendigen Erhöhung des Ansehens der Regierung, mit der Schaffung einer sauberen Atmosphäre in der korruptionsgeplagten Kongressspitze verbunden. Darüber hat Rahul bisher nicht gesprochen. Er wird es aber tun müssen, im Interesse der Partei und in seinem eigenen Interesse. Erzielt er hier Erfolge, würde das vor allem von den Wählermassen honoriert werden. Damit wäre seine politische Zukunft gesichert.
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