von Viola Schubert-Lehnhardt
Im Juni 2011 veranstaltete der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages eine Sachverständigenanhörung zum Thema „Ethische und rechtliche Aspekte von Organspenden“. Dort wurde unter anderem die Frage diskutiert, ob eine „Änderung des Rechtsrahmens“ notwendig sei, um die Anzahl der Organspenden in Deutschland zu erhöhen. Neu ist diese Debatte nicht; die moderne Literatur allein zu ethischen Argumenten um das „Für und Wider“ ist kaum noch zu überblicken. Und wer sich darüber hinaus für historische Aspekte interessiert, dem sei das exzellent geschriebene und illustrierte Buch des Kulturwissenschaftlers Bernhard Kathan „Das indiskrete Organ. Organverpflanzungen in literarischen Bearbeitungen (StudienVerlag, Innsbruck 2008) empfohlen. Viele Motive, Begründungen, Hoffnungen und ablehnende Haltungen sind schon seit Jahrhunderten bekannt und tauchen heute bestenfalls im neuen Gewande wieder auf.
Was also ist nun neu, mitteilenswert und diskussions- bzw. veränderungswürdig? Zum einen der unter anderem von dem Chirurgen Peter Neuhaus in eingangs erwähnten Anhörung klar ausgesprochene Wunsch „einen gewissen ethischen Druck oder etwas mehr auszuüben, dass die Leute sich damit befassen müssen und möglichst eine Entscheidung treffen“, zum anderen die gegenwärtig ausschließlich auf Erhöhung der Spendenbereitschaft in der Bevölkerung ausgerichtete öffentliche Debatte. Nun sind Appelle an die Opferbereitschaft der Bevölkerung in Deutschland so neu nicht. Beginnen wir trotzdem mit diesem Punkt und fragen uns zuerst: Wäre die Erhöhung der Bereitschaft zur Organspende tatsächlich der Königsweg zur Vermeidung von „Todesfällen auf der Warteliste“. Bereits an dieser Stelle sei vorab geklärt: Menschen, die auf Wartelisten stehen, sterben an ihren Erkrankungen oder vorausgegangenen Unfällen, nicht wegen fehlender Spenderorgane! Ich halte bereits die häufig in diesen Debatten anzutreffende Formulierung „es sterben in Deutschland jährlich X (egal welche Zahl hier eingefügt wird) Menschen wegen fehlender Spenderorgane“ nicht nur für inkorrekt, sondern vor allem für eine moralisch unzulässige Formulierung mit dem Ziel, einen kollektiven Gewissensdruck auszuüben.
Doch zur Frage zurück: Wie steht es mit den Organspenden in Deutschland? Bereits 2006 wurde das Buch „Organmangel. Ist der Tod auf der Warteliste vermeidbar?“ durch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften öffentlich vorgestellt – und damit auch die dort vorgelegten Resultate und Empfehlungen einer Projektgruppe der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH. Im Fokus der Untersuchungen stand die postmortale Organspende, auf die sich auch der vorliegende Beitrag beschränkt, was dem Sachverhalt Rechnung trägt, dass die gegenwärtige Debatte und aktuelle Gesetzesänderungsvorschläge im Wesentlichen auf die Dokumentation von Spendenbereitschaft nach dem Tod fixiert sind.
In dem genannten Buch wurden Zahlen zum Verhältnis von Spendenbereitschaft und realisierten Spenden für die Region Nord-Ost (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern vorgelegt. Demzufolge waren in dieser Region in den Jahren 2002 bis 2004 von insgesamt 1.502 Verstorbenen 940 als potenzielle Organspender eingestuft worden. Die Zahl der aktuellen Organspenden betrug demgegenüber nur 469 und die der tatsächlich realisierten Spenden lag bei lediglich 448.
Als Ursachen für diese Diskrepanz wurden folgende Sachverhalte benannt:
– Die meldende Krankenhäuser erhielten keine kostendeckende Erstattung ihrer Aufwendungen. Insbesondere kleinere Häuser könnten Personal und Geräte daher nicht vorhalten und zögen es oft vor, Spendebereitschaft nicht zu dokumentieren.
– Auch die Transplantationszentren hätten nur ein nur geringes Interesse an einer Dokumentation und Meldung potentieller OrganspenderInnen, da die Organvergabe zentral erfolge.
– Die Monopolstellung der Koordinierungsstelle – Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) – trage ebenfalls nicht zur besseren Erfassung und Meldung der SpenderInnen bei.
– Die potentiellen OrganspenderInnen selbst hätten Hemmungen, den eigenen Tod zu planen und dies schriftlich niederzulegen. Dazu trage auch bei, dass SpenderInnen kein Verfügungsrecht über eigene Organe hätten, also nicht gezielt für bestimmte Personen spenden könnten.
Als mögliche Ansätze zur Erhöhung postmortaler Organspenden wurden unter anderem folgende Vorschläge unterbreitet:
– Beseitigung der finanziellen Hindernisse für die Krankenhäuser zur Meldung;
– Realisierung eines bundesweiten Registers potentieller OrganspenderInnen;
– verbesserte Absicherung von Lebendspendern (Versicherung);
– Neuordnung der Koordination (Aufhebung des Monopols der DSO; Ziel der Organisation dürfe nicht Verwaltung, sondern müsse Ausschöpfen des Spenderpotentials sein);
– Ausweitung der „Überkreuzspende“;
– eigene Organspendebereitschaft als Vergabekriterium für ein Organ im Bedarfsfall;
– finanzielle Vergütung für potentielle SpenderInnen.
Wie unschwer zu erkennen ist, kaprizieren sich die öffentliche Debatte und die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen nur auf einen einzigen Punkt: die bessere Dokumentation des Spenderwillens der Bevölkerung. Und selbst dabei gibt es noch Unklarheiten, etwa über die technischen und datenschutzrechtlichen Möglichkeiten der Speicherung auf der Krankenkassen-Chipkarte.
Das wiederholte Zusenden von Informationsmaterialien durch die Krankenkassen, das jetzt angekündigt ist und vollmundig als Reform apostrophiert wird, mag die Anzahl der dokumentierten potentiellen SpenderInnen erhöhen, die aus den oben angegebenen Zahlen ersichtliche Diskrepanz zwischen potentiellen und realisierten Spendern wird sich jedoch gleichfalls erhöhen, wenn die anderen Ursachen für fehlende Spenderorgane nicht parallel dazu beseitigt werden. Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr hat zwar angekündigt, dass es in jedem Krankenhaus künftig einen Transplantationsbeauftragten geben soll, allerdings ist bisher im dazu vorgelegten Gesetzentwurf nicht geregelt, welche Ausbildung und Kompetenzen diese Beauftragten haben sollen. Und erst recht nicht geklärt sind die Fragen der Finanzierung in kleineren Häusern. Ebenfalls nichts öffentlich zu hören ist zu den Ergebnissen der von Bahr initiierten Prüfung von Vorwürfen wegen Vetternwirtschaft gegen den Vorstand der DSO. Grundproblem sei, so war im Tagesspiegel nachzulesen, „dass der Stiftungszweck lediglich als Förderung der Organspende“ beschrieben und man dadurch „im Prinzip völlig frei bei der Verwendung der Gelder“ sei; auffällig oft kämen Verwandte von Vorstandsmitgliedern bei Auftragsvergabe zum Zuge.
All dies nährt die latent in der Bevölkerung vorhandenen Vorbehalte gegen Organspenden und deren Realisierung in Deutschland. Weder darüber, noch zu Unklarheiten und Ängsten über das Kriterium Hirntod wird jedoch eine öffentliche Diskussion geführt, und dieses Manko wird noch verstärkt durch Entscheidungen im Ausland über die Zulässigkeit von sogenannten „non-heart-beat-donners“. Das sind Patienten mit Herzstillstand, der durch Reanimationsmaßnahmen aber reversibel wäre. Bei „non-heart-beat-donners“ unterbleiben diese Maßnahmen, und es wird statt dessen bereits zwei bis zehn Minuten nach der Todeszeitfestellung mit der Organentnahme begonnen. Insofern werden sehr wahrscheinlich die Ängste und das Misstrauen der Bevölkerung durch den bloßen Versand von Informationsunterlagen durch die Krankenkassen kaum ausgeräumt werden und damit auch die Zahlen der positiven Bereitschaftserklärungen zur Organspende nur marginal steigen, und das allein schon infolge einer psychologischen Hürde, die auf diese Weise nicht zu knacken ist: Wer sich vor Tod und Sterben fürchtet, wird häufig auch nicht bereit sein, solche Materialien auch nur zu lesen.
Eigene Erfahrungen der Autorin als Lehrkraft und Referentin besagen, dass dazu das persönliche Gespräch, die Bereitschaft zuzuhören und auf Ängste und Befürchtungen dezidiert einzugehen, unabdingbar sind.
Unabhängig von zugesandten Materialien, öffentlichen Diskussionen und persönlichen Gesprächen – das Leben eines Menschen ist stets offen, und niemand ist moralisch verpflichtet, es zu planen oder gar Festlegungen über seinen Tod hinaus zu treffen. Es mag uns sinnvoll erscheinen, dies zu tun; es mag uns und unseren jeweiligen LebenspartnerInnen Sicherheit geben und Vertrauen schaffen – kurz: es mag viele gute (moralische) Gründe geben, Leben und Tod zu planen und die Entscheidungen schriftlich zu fixieren – es ist dies jedoch weder eine Pflicht noch erzwingbar. Freiheit als eines der höchsten Güter einer humanen, demokratischen Gesellschaft schließt immer auch ein, dass diese Freiheit nicht im gesellschaftlich gewünschtem Sinne wahrgenommen wird. Das Spenden eines Organs bleibt ein Geschenk (des Lebens), so die beiden großen Kirchen in Deutschland. Mit dieser Position stimme ich als Atheistin überein. Niemand kann gezwungen werden, etwas zu verschenken oder auch nur Gründe anzugeben, warum er schenken oder nicht schenken will. Die Kategorie der „Zumutbarkeit“ (über eine solche Entscheidung nachzudenken und sie zu dokumentieren – wie von BefürworterInnen argumentiert wird) ist daher hier falsch angewandt. Organspende ist keine Frage der Zumutbarkeit sondern eben der Freiheit und Offenheit des Lebens.
P.S.: „Reform der Organspende“ – so titelten am 22. März 2012 einige Zeitungen. Aber konnten sich die Fraktionen des Bundestags jetzt tatsächlich „mit Einmütigkeit“ auf eine „Neuregelung der Organspende“ verständigen? Nein – sie haben sich nur für den neuen Begriff „Entscheidungslösung“ anstelle von „Zustimmungslösung“ und den Versand von mehr Werbematerial entschieden. Die im vorliegenden Beitrag angesprochenen Hemmnisse zur Realisierung von potentiellen Organspenden wurden noch nicht einmal diskutiert, geschweige denn beseitigt. Dass jetzt die Bereitschaft zur Organspende mehr und besser dokumentiert werden soll, führt eben leider nicht automatisch auch zu mehr realisierten Organspenden. Es wurde viel und emotional geredet, aber wenig geregelt – typisch deutsch, könnte frau meinen. Wünschenswert wären nicht nur eine breite öffentliche Weiterführung der Debatte, sondern auch konkrete finanzielle Festlegungen und gesetzliche Regelungen. Derzeit sind die Aussagen dazu eher vage und der deutsche Michel, der seine Regierung kennt, wird skeptisch bleiben und abwarten.
Schlagwörter: Deutsche Stiftung Organtransplantation, DSO, Organspende, Viola Schubert-Lehnhardt