von Matthias Käther
Franzosen und Russen gehört das Land,
Das Meer gehört den Briten,
Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
Die Herrschaft unbestritten.
Heinrich Heine
2007 bastelten Anja Viohl und ich an einem Karl-May-Feature für den RBB. Und Anja Viohl – heute exzellente und gradlinige Sprecherin von „Reporter ohne Grenzen“ – bescherte mir damals einen der schönsten Momente meiner Karriere. Uns gegenüber saß der Senior-Chef des Karl-May-Verlages, Lothar Schmid, und wurde immer gereizter, da Anja ihm erbarmungslos wieder und wieder vorhielt, die Zahlen der Karl-May-Publikationen seien in den letzten Jahren doch schwer abgestürzt.
„Was wollen Sie eigentlich“, brach es plötzlich aus Schmid heraus, „May ist wenigstens bekannt, ein Millionen-Autor! Nehmen Sie zum Vergleich doch solche Leute wie Kafka oder Brecht! Wer liest denn die heute noch!?“
Sie kennen diese Bilder, wo stolze Sonntagsangler ihre gefangenen Riesenfische in die Kamera halten? So wie die lächeln, muss ich da auch gelächelt haben. Ein seltener Fang – ein Blick in die Seele eines Bestsellerverlegers. Wir haben den Satz in der Sendung nicht kommentiert. Wozu auch.
Ich weiß nicht, ob Kafka und Brecht weniger gelesen werden als Karl May. Fest steht, dass es dem einstigen Longseller-Autor May längst nicht mehr so gut geht wie einst.
Die May-Fans winden sich. Da heißt es: Na ja, es wird ja sowieso weniger gelesen heutzutage. Oder: Der gründlich recherchierende Karl May sei einer oberflächlichen Welt von heute zu kompliziert. Anhänger der Karl-May-Verlags-Bücher verweisen auf die „schwierigen“ Ausgaben der Originalwerke, die im Netz wegen ihrer Gemeinfreiheit überall präsent sind. Freunde wortgetreuer Werke schimpfen wiederum auf die zahllosen infantilen Entstellungen in den berühmten grünen Bänden, die Mays Werk für jeden Erwachsenen ungenießbar machen.
Dabei ist es eigentlich gar nicht so erstaunlich, dass May kein Millionenpublikum mehr hat. Das große Wunder ist vielmehr sein einstiger Erfolg – der nur aufblühen konnte in einem ganz speziellen Klima deutscher Lustfeindlichkeit.
II
Die deutschen Intellektuellen analysieren gern. Und wenn sie etwas sezieren und innen nichts finden, das interessanter aussieht als die Außenhülle, wenden sie sich blasiert ab. Das gilt auch bei Büchern.
Manchmal, so mein Lieblingssatz von Stephen King, ist aber eine gute Geschichte eben einfach nur eine gute Geschichte.
Wer Literaturkritiken des 19. Jahrhunderts gelesen hat, weiß, dass die deutschen Moral-Wächter der Literatur damals mit ihrer Angst vor dem Amüsement mehr Schaden anrichteten, als gute Bücher provozierten. Ihr wütender Hass auf alles, was nicht „belehrte“, sondern nur hübsch oder kurzweilig war, führte zur radikalen Genrespaltung und damit zu einer Altjüngferlichkeit der deutschen Hochliteratur, die nicht einmal im prüden England unter Viktoria ihresgleichen fand. Man kann es heute kaum fassen, dass etwa Storm und Flaubert zur selben Zeit lebten. Hier urbane Modernität – dort stilisierte Provinz.
Wir nehmen die Ödnis jener Texte oft als gegeben hin, abgehärtet durch einen staubigen Literaturunterricht, in dem man uns allen Ernstes einreden wollte, „Immensee“ sei ein großer Wurf.
Die zeitgenössischen Autoren mit mehr Biss als Storm reagierten weniger gelassen. Wie die beleidigten Feen in Tiecks schönem Gleichnismärchen die Menschenwelt, so verließen die Unterhaltungsschriftsteller den offiziellen Markt in Deutschland – in Richtung Kolportage und Regenbogenpresse. Der Kolportagehandel war vom üblichen Buchhandel abgekoppelt, diese Romane wurden per Abo bezogen oder in speziellen Sonderbuchhandlungen gekauft, Zensur war schwierig. Was sollten die Autoren der leichten Kost auch sonst machen – als in den oft schmuddligen Untergrund gehen? Eine Abenteuergeschichte mit erotischem Einschlag zu schreiben, oder einen blutigen Thriller, kam in Deutschland einer literarischen Straftat gleich. Vorwurf: Produktion von Schund und Schmutz, Gefährdung der Jugend.
III
Was hat das alles mit Karl May zu tun? Nun, 1882 erschien in Fortsetzungen beim Kolportageverlag Münchmeyer ein monströses Werk mit dem Titel: „Waldröschen oder die Rächerjagd um die Erde“ eines gewissen Spaniers namens Diaz Escosura. Das Buch sollte sich bald zu einem der ersten modernen Bestseller entwickeln. Der Roman war eine grandiose Zusammenfassung aller bisherigen Abenteuerliteratur – und liest sich bis heute aufregend. Ich habe viele vergnügte Stunden mit der 3000-Seiten-Schwarte verbracht und wirklich getrauert, als es vorbei war. Es ist alles drin: Liebe, Verrat, Europäische Fürsten, mexikanische Banditen, spanische Zigeuner, schöne Frauen, edle Indianer. Geschrieben in einer wütenden, drängenden Prosa, die nie elegant sein will, sondern wie kein früheres Spannungsbuch, das in Deutschland erschien, blenden, schocken, verführen will, mit allen Mitteln, die der Spannungsbuchliteratur des 19. Jahrhunderts zur Verfügung standen.
Dieser Escosura – Sie ahnen oder wissen es – war niemand anders als Karl May.
Nach dem enormen Erstlingserfolg schrieb er noch vier weitere Münchmeyer-Romane, nicht so gut wie das „Waldröschen“, aber doch immerhin amüsant.
Dann kam die große Kehrtwende. May löste die Quadratur des deutschen Teufelskreises: Wie schaffe ich Unterhaltungsliteratur, ohne verdammt zu werden? Ist doch schließlich kein Leben, sich immer in der Kolportageecke hinter Pseudonymen zu verstecken …
May – oft als Träumer verlacht – erkannte scharfsichtig einige der großen Bedürfnisse seiner Zeit. Zuallererst, das hatte er in seiner kriminellen Frühzeit als Trickbetrüger gelernt: Mundus vult decipi – ergo decipiatur. Und May beschwindelte die Welt im großen Stil, er wurde der Großscharlatan der Literaturgeschichte. Sein Fall ist ohne Beispiel. Er erfand einen Orient, einen wilden Westen, wie es sie nicht gab, die aber so, genau so in den Tagträumen der Deutschen existierten.
Dabei bewies er großes Talent. Die Kulissen stimmten frappierend mit der Wirklichkeit überein. Selbst Experten bestätigten, dass die beschriebenen Landschaften, die Sitten der fremden Völker gut gezeichnet waren.
Nur die Helden, die sich in dieser naturalistischen Staffage bewegten, waren leider allesamt missfarben. Old Shatterhand, Winnetou, Kara Ben Nemsi sind verzerrte Abbilder deutscher kollektiver Rettungsphantasien. Dabei vermengt May äußerst raffiniert den toleranten Pazifismus der Aufklärung (immerhin war die Aufklärung lange Bildungsgut des Mittelstandes, der Topos vom „Edlen Wilden“ ist dort entlehnt) mit dem Mystizismus der Romantik und wilhelminischen Plattitüden. Zugegeben – Gebacken hatten mit diesen Zutaten schon andere, doch niemand besaß vor May ein so gutes Rezept.
Waren seine Erzählungen fortan im neuen Verlag Fehsenfeld als „authentische Reiseerlebnisse“ getarnt, kam noch ein Ingredienz dazu, um sie für den Mittelstand genießbar zu machen – bei der kastrierten deutschen Hochliteratur schaute er sich die Asexualität ab. Wimmelte es in seinen Münchmeyerromanen von schwülen Harems, dunkeläugigen Schönen mit wogenden Busen und düsteren Femmes fatales, wurden sie nun aus dem Tempel geworfen. Der Mangel an Frauen und Erotik bei May ist so augenfällig, dass Mays Konkurrent Robert Kraft wohl nicht zufällig in seinem ersten Roman, den „Vestalinnen“(1895), eine Horde lautstarker abenteuernder Amerikanerinnen auf den Leser loslässt, die ihre männlichen Verehrer mit Frauenpower und Sexappeal in Angst und Schrecken versetzen – es war das fällige reinigende Gewitter nach Zeiten ewiger anämischer Männerbünde und fester Händedrücke.
IV
May gelang der Coup – sein Werk wurde von der breiten Masse akzeptiert. Mehr noch, May selbst glaubte bald, dass er diese Abenteuer erlebt hatte. Seltenes Beispiel literarischen Narzissmus‘: Ein Autor erliegt seiner eigenen Suggestion. Die geflügelte Schlange der Phantasie frisst sich selbst.
Ironischerweise brach das Lügengebäude gerade in dem Moment zusammen, als May sich aufraffte und wirklich auf Reisen ging. Er war im Orient, als man ihm vorwarf, nie im Orient gewesen zu sein. Doch nun war es zu spät.
Auch die frühe Vergangenheit holte ihn ein – man hatte ihn als Verfasser der alten Münchmeyerromane entdeckt und warf ihm jetzt zusätzlich noch Unsittlichkeit vor. Endlose Prozesse folgten, die ihm die letzten Lebensjahre verbitterten. Am 30. März 1912 starb Karl May, ohne sich vollständig rehabilitiert zu haben. Warum ist ein Scharlatan der Literatur heute immer noch so faszinierend? Die Antwort ist entwaffnend einfach – eben weil er ein Scharlatan ist. Wer ihn heute liest, tritt selten in seine Bücher ein, um eine lebendige Geschichte zu erleben.
Heute, 100 Jahre nach seinem Tod, ist seine Welt noch da, unheimlich und sphinxhaft liegen tote Städte und starre Landschaften vor uns. Und Scharen von Touristen drängeln sich staunend durch seine Zeilen. Wir bewundern andächtig die Pyramiden des Wahns.
Das erklärt vielleicht, warum Mays Publikum immer noch groß ist, wenn auch heute überschaubar.
Doch es ist auch ein bisschen wie in diesen Horrorfilmen, wo die Kamera am Schluss auf ein zuckendes Ei zufährt: Wer weiß? Hat doch ein Monstrum überlebt? Vielleicht blüht ja noch etwas im Schatten der zerbröselnden Bauten? Am Ende gar – was für ein schöner Witz der sonst oft so humorlosen deutschen Literaturgeschichte – das Waldröschen?
Schlagwörter: Hochliteratur, Karl May, Literaturkritik, Matthias Käther