15. Jahrgang | Nummer 6 | 19. März 2012

Kleidung, Macht, Leute – Anzügliches (Teil III: Maskulines)

von Lutz Unterseher

Die Geschichte des Herrenanzuges währt bereits um die zwei Jahrhunderte. Es ist eine Erfolgsgeschichte. Sicherlich, der Herrenanzug musste gegenüber der Freizeitkleidung Terrain aufgeben – und auch gegenüber den „Kombinationen“ für bessere Anlässe (beispielsweise Tweedjackett und Jeans oder Blazer mit Khaki-Beinkleidern). Doch hat er zugleich die Herrengewandung für das ganz Besondere, Außergewöhnliche – Smoking, Frack, Cutaway, Stresemann – zunehmend in eine Randexistenz gedrängt. Er hat sich als Kleidungsstück für alle „ordentlichen“ Verwendungen fest etabliert: Geschäft, Politik, Feierlichkeit.
Der Herrenanzug ist immens praktisch. In seinen zahlreichen Taschen lässt sich ein halber Hausstand transportieren. Das meist strapazierfähige Tuch schützt vor Wind und Wetter. Bei Hitze lässt sich die Jacke über die Schultern drapieren und kann sogar als Windfang dienen, wie etwa Wladimir Iljitsch Lenin und Rolf Hochhuth es immer wieder demonstrierten. Die oft gedeckte Farbgebung signalisiert Seriosität und macht Flecken weniger gut erkennbar. Und mag der Herrenanzug an sich auch noch so langweilig erscheinen: Er lässt sich je nach Situation um eine Weste unterschiedlichster Couleur anreichern sowie durch entsprechende Krawatten und Einstecktüchlein aufpeppen.
Der Anzug behindert die Bewegungsfreiheit seines Trägers kaum. Jedenfalls trugen die – selbstverständlich: englischen – Erstbesteiger des Matterhorns Tweedanzüge. Während der Anzug einerseits der Beweglichkeit also kaum hinderlich ist, wird er andererseits aber auch als eine Art Korsett, als eine Rüstung gesehen, die dem Mann in Zeiten des Hinterfragens seiner Rolle und der Herausforderung seiner Dominanz Stütze und Psycho-Schutz bietet.
Wir haben es also mit einem Tausendsassa der Kleiderwelt zu tun. Einen Eindruck davon, welche Spannbreite von Konnotationen dieses Gebilde in der Sphäre der Politik haben kann, sollen – wie bereits eingangs bemerkt – die ersten vier der folgenden Beobachtungen vermitteln. Die fünfte Beobachtung schließlich zeugt, wie ebenfalls schon angedeutet, von einer Schlappe für unseren Kandidaten.
Fall 1 Erich Honecker: Der vorletzte Staatsratsvorsitzende der DDR erscheint manchen im Rückblick, gerade auch in Bezug auf seine Kleidung, als graue Maus, als Exponent eines virtuell seelenlosen Apparates inmitten des sozialistischen Einerlei. Dies ist freilich so nicht ganz richtig. Bei näherem Hinsehen bemerken wir jedenfalls, dass Honecker sich sorgfältiger und nuancenreicher kleidete als etwa die 08/15-Politiker aus dem Westen, mit denen er es gelegentlich zu tun hatte. Während letztere sommers wie winters in dunklen Anzügen samt kleingemusterten, nicht zu farbigen Krawatten und manchmal auch in unauffälligen Kombinationen daherkamen, ging er mit den Jahreszeiten. Im Winter trug er vorzugsweise dunkelblau oder anthrazit, im Frühling und Herbst grau oder ein gedecktes Beige, während das helle Beige den wärmeren Tagen des Sommers vorbehalten blieb. Auch auf den Grad der Feierlichkeit reagierte er mit der Anzugsfarbe – dunkel bei ernsten Anlässen, hell bei eher lockeren. Die obligate Krawatte war jeweils farblich auf den Anzug abgestimmt. Entsprechendes galt auch für den Mantel, wenn die Wetterlage das Tragen eines solchen gebot (Beispiel 1. Mai: Stundenlanges Stehen auf der Tribüne).
Erich Honecker war der Anzugträger par excellence. Mit Ausnahme der Jagdbekleidung, in die er aus gegebenem Anlass gerne schlüpfte, wollte er nichts anderes mehr kennen. Und dabei war ihm wichtig, dass seine Anzüge irgendwie „passten“ – zum Wetter und zu den Gelegenheiten. Dieses Streben nach Angemessenheit schloss auch ein, im Freien unbedingt eine Kopfbedeckung zu tragen: in der Kälte die sowjetische Fellmütze und sonst seine typischen kleinen Hütchen, selbstverständlich farblich auf das Basis-Outfit abgestimmt.
Vielleicht gerade, weil das Tragen von Anzügen ihm zur zweiten Natur geworden war, konnte er sich, als seine Macht gefestigt schien, gelegentlich auch Extravaganzen erlauben. Auf dem ersten KSZE-Treffen in Helsinki jedenfalls war die Krawatte, die er zum dunkelblauen Anzug trug, bedeutend fröhlicher als die des neben ihm sitzenden Helmut Schmidt.
Erich Honecker stammte aus einem kleinbürgerlich orientierten Arbeiterhaushalt im Saarland. Die ihm dadurch vermittelten Vorstellungen von Bürgerlichkeit konnte er freilich lange Zeit nicht ausleben: war er doch erst im kommunistischen Untergrund, dann in Nazi-Haft und anschließend Chef der Freien Deutschen Jugend in der DDR. Als FDJ-Berufsjugendlicher musste er bei den damals so häufigen öffentlichen Anlässen immer „Kluft“ tragen – etwas, das ihm nicht unbedingt gefallen haben mag.
Seine Rolle als Jugendführer erleichterte es ihm freilich, eine erkleckliche Zahl von Mädchen zu schwängern. Ob der sich häufenden Vaterschaftsklagen bekam er vom Politbüro der SED eine Abmahnung und wurde zur Besserung und inneren Einkehr für längere Zeit nach Moskau verschickt. Zurück kam er als gewandelter Mensch: ernsthafter und machtbewusster zugleich, zielstrebig auf die Rolle eines Kronprinzen Walter Ulbrichts hinarbeitend.
Nun trug er nur noch Anzug – als Zeichen der Seriosität, bemüht, auch äußerlich den Abschied von seinen wilden Jahren anzuzeigen. Dabei orientierte er sich am Erscheinungsbild der respektablen Bürger seiner Jugendzeit (woran auch sonst?):
Der Anzugträger der Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts ging nicht ohne Hut und, wenn das Wetter es erforderte, mit Mantel. Zudem passte er die Farbgebung seines Outfits den Umständen an.
Fall 2 Sir John Barraclough: Air Chief Marshal Sir John Barraclough war ein hoher Offizier der Royal Air Force. Er galt als erfahrener Pilot, begeisterter Atlantiksegler und Reiter und hatte, als einer der wenigen Intellektuellen unter den hohen militärischen Führern Britanniens, die Harvard Business School absolviert. Kurz nach seiner Pensionierung, es war Ende Mai 1982, nahm er in Washington DC an einer kleinen Arbeitskonferenz teil, deren Aufgabe es war, Alternativen zu der von Kritiker/innen als selbstmörderisch erachteten Nuklearstrategie der NATO zu entwickeln. Teilnehmer waren elf US-Amerikaner (Admiräle, Generäle und frühere Präsidentenberater) sowie vier Ausländer: zwei Briten, ein Israeli und ich.
Bei Konferenzbeginn, gegen 10:30 Uhr, war es bereits drückend heiß. Doch die (sehr) leise surrende Klima-Anlage hatte unseren Raum angenehm gekühlt. Gleichwohl waren die amerikanischen Teilnehmer so gekleidet, wie das etwa Diplomaten in Hitzegebieten wohl anstehen würde. Typischerweise trugen sie leichteste Anzüge: kaum gepolstert, meist vom Wash-and-Wear-Typ, in hellblau oder sehr hellem beige. Dazu strahlend weiße Hemden und farbenfrohe Clubkrawatten. Alle dufteten dezent nach teuren Deodorants.
Mit Ausnahme Sir Johns trugen wir Ausländer irgendwelche scheußlichen Kombinationen. Und jener, ein großer, knochig-athletischer Typ, hatte offenbar seinen Einheitsanzug an. Das Gewand war schwarz, aus stabilem Tuch und hatte wohl schon bessere Tage gesehen. Gut, aber nicht körpernah geschnitten, die Schultern nicht sonderlich betont. An den beiden Tagen der Konferenz trug unser Lufthauptmarschall dazu Hemden und jeweils zwei Einstecktücher (Brusttasche und Ärmel) in hellem sowie Uni-Krawatten in kräftigem lila. Was außerdem an ihm auffiel, das waren seine Schuhe: schwarz, einfach, gut geputzt – und, wie die Äderung im Leder verriet, vermutlich zwanzig bis dreißig Jahre alt.
Gleich zu Beginn der Konferenz veranlasste Sir John, dass die Klima-Anlage ausgeschaltet wurde. Er behauptete nämlich, dass sein Hörgerät und die Anlage „dieselbe Frequenz“ hätten. Dies war insofern ein besonderer practical joke, wie er als Kunst im Offizierkorps Ihrer Anglikanischen Majestät gepflegt wird, weil der Beschwerdeführer gar kein Hörgerät trug. Es war ihm gelungen, sich in der Sitzordnung so zu positionieren, dass wir anderen sein rechtes Ohr nicht sehen konnten (in dem wir die Hörhilfe vermuten mussten).
Bald wurde es ziemlich warm, und es kam zu dramatischem Deo-Versagen. Die Amerikaner begannen sich unwohl zu fühlen, denn die Söhne und Töchter dieser großen Nation empfinden bekanntlich den Geruch des eigenen Schweißes als very disgusting. Sir John – mit diesem Phänomen augenscheinlich vertraut – hatte darauf seine Strategie aufgebaut. Und er wusste als Repräsentant der alten Welt auch, dass den Europäern sowie dem Israeli ein bisschen Eigengeruch nichts ausmachen würde. Durch seine Aktion wollte er uns Vorteile in der Diskussion verschaffen. Und wir nahmen diese Vorteile wahr.
Der Lufthauptmarschall selbst schwitzte übrigens nicht. Schwitzen oder Nicht-Schwitzen: Das war für ihn Willenssache. Der schwarze Anzug diente ihm als eine Art Schild gegenüber allen äußeren Einflüssen – als eine Festung auch, von der aus er seine abgefeimten Operationen plante und ausführte. Und wenn er mit dem Verlauf der Diskussion nicht ganz zufrieden war, vielleicht weil ein US-Kollege sich in Selbstbeweihräucherung erging, konnte er gelegentlich die Festung in ein Zeichen stillen, allerdings äußerst irritierenden Protests verwandeln. Er lehnte sich dann zurück und streckte seine langen Beine aus, womit sich die der Teilnehmerschaft zugewandte Fläche vergrößerte. Darauf zog er wie ein Magier das im Ärmel steckende lilafarbene Seidentuch hervor, entfaltete es zu überraschender Größe und bedeckte damit Oberkörper samt Gesicht. Das wirkte.