15. Jahrgang | Nummer 6 | 19. März 2012

Der vergewaltigte Klassiker

von Matthias Käther

Bald jährt sich der 100. Todestag Karl Mays – da werden wir wieder einiges zu hören bekommen, die Presse wird lobhudelnde Feuilletons ausschwitzen. Die May-Biographien in den Buchläden stehen schon bereit.
Nur am Rande wird der große Literaturskandal diskutiert werden – dass nämlich die berühmten grünen Bände des Karl-May-Verlages gar keinen Karl May, sondern nacherzählte Versionen unbekannter Autoren enthalten. Es existiert buchstäblich kein einziger Satz des Originals mehr in vielen dieser dubiosen Ausgaben. In der DDR wurde für die May-Leser dieser Umstand zum Glücksfall – die Ost-Ausgabe konnte teure Lizenzgebühren sparen, indem sie die gemeinfreien alten Originalfassungen vom Fehsenfeld-Verlag benutzte – was sie denn auch tat – und so kamen die Ossis in den Genuss des echten May. Die vielen Fans in den neuen Bundesländern zeigen, dass der originale May durchaus noch „zieht“ und zerkaute Fassungen für Kleinkinder nicht nötig sind.
Im Schatten des May-Skandals steht aber ein weiterer Versuch, einen deutschen Schriftsteller komplett zu kastrieren – und leider ist dieser Versuch vollständig gelungen. Mays Vorläufer Friedrich Gerstäcker (1816-1872) ist heute fast gar nicht mehr im Original zu haben. Die Schriften wurden in ihrem ursprünglichen Wortlaut praktisch von der Erde getilgt, und das mit fleißiger Unterstützung der Braunschweiger Gerstäcker-Gesellschaft – ein Schulbeispiel dafür, dass keine Feinde braucht, wer solche Freunde hat.
Zunächst scheint es stilistisch und thematisch zwischen May und Gerstäcker eine Menge Parallelen zu geben – bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass diese beiden Autoren unterschiedlicher nicht sein könnten. May erfand seine Reisebücher – Gerstäcker war ein Weltenbummler; er bereiste praktisch die ganze Welt. May war sein (Schriftsteller-)Leben lang ultrakonservativ und frömmlerisch, Gerstäcker kokettierte bis 1870 stark mit demokratisch-republikanischen Gedanken und blieb skeptisch in religiösen Fragen. Kurz, Gerstäcker gehört zu den wenigen wirklich eloquenten radikalliberalen Feuilletonisten und Romanciers seiner Zeit – kein Wunder, dass sich niemand für ihn interessiert.
Im Gegensatz zu May, über den inzwischen mehr geschrieben wurde als über Goethe, führt Gerstäcker ein Schattendasein, ohne Werkausgabe, ohne nennenswerte Biographien, ohne Lobby.
Der gebürtige Hamburger lebte wie alle vielbeschäftigten Feuilletonisten in ständiger Sorge, dass sein Zeitungswerk zerflattere – deswegen sammelte er die besten Geschichten und Artikel ähnlich wie Alfred Polgar regelmäßig in Sammelbänden, übrigens auch mit ähnlich schönen Titeln, wie der spätere Kollege sie erfand. Sie sind im Gesamtwerk leicht an Gegensatzpaaren zu erkennen: „Hell und Dunkel“, „Kreuz und Quer“, „Unter Palmen und Buchen“. Hauptverleger war Costenoble, der gern mit der Kolportage flirtete, aber auch bessere Sachen herausgab.
Alles lief gut, bis einige Jahre nach Gerstäckers Tod eine neue „Volksausgabe“ geplant wurde, unter der Leitung des Lehrers und Krimiautors Dietrich Theden. Der „sah“ um die Jahrhundertwende Gerstäckers Schriften „neu durch“. Der arglose Leser vermutet, dass hier noch einmal auf Rechtschreibung geprüft wurde – doch nein. Theden schlug sich mit einer Machete durch Gerstäckers elegante Prosa, zerbrach seine federnden Satzkonstruktionen in lapidare Hauptsätze, stellte um, ließ weg. Praktisch das ganze Werk wurde so zerstört und in hoher Auflage in grellroten Prachtbänden verkauft.
Das ist bis heute so geblieben. Als der Präsident der Gerstäcker-Gesellschaft Thomas Ostwald im Jahr 2000 den Erstling Gerstäckers, die „Streif- und Jagdzüge durch Amerika“ (1844) neu herausgab, übertraf er Theden noch im wüsten Verstümmeln der Prosa. Ich will hier einen so verdienstvollen Enthusiasten und Kenner wie Ostwald nicht mit stupiden Bearbeitern früherer Jahre in einen Topf werfen – er hat immerhin das Verdienst, immer wieder auf Gerstäcker aufmerksam zu machen, wenn auch mit Methoden, die der Alptraum jedes echten Bibliophilen sind. Aber er muss sich schon fragen lassen, warum er selbst beim lobenswerten Projekt einer sechsbändigen Auswahlausgabe in den Achtzigern, die in Ost und West erschien, die Bearbeitung ausdrücklich sanktionierte. Hier wäre eine Chance zur gesamtdeutschen Wiederentdeckung gewesen – sie ist vertan worden. Diesmal sollte, anders als bei May, auch der Osten nicht verschont werden von der Bearbeitungswut der nicht aussterbenden edlen „Durchseher“, die glauben, sie müssten alte Autoren vor neuen Epochen beschützen.
Zugegeben – Gerstäcker war kein genialer Reiseschriftsteller wie Twain oder Dumas. Er hat seine großen und seine zeitgebundenen, biedermeierlichen Momente. Doch ihn in seinen Widersprüchen wahrzunehmen, mit all seinen Schönheiten und Albernheiten, dazu bedürfte es einer ernsthaften Auseinandersetzung, einer verlässlichen Ausgabe. Originalton wäre Mindestvoraussetzung.
Immerhin – die Internetseite Wiki-Source hat Gerstäckers wichtigste Feuilletons aus der „Gartenlaube“ wieder zugänglich gemacht – und bei der Lektüre ahnt man, wie gut der echte Gerstäcker gewesen sein muss. Er erzählt launig von Schlafwagenfahrten in Amerika, macht sich über Ehefrauen mit Reinemachzwang lustig und berichtet anschaulich vom deutsch-französischen Krieg 1870, wo er furchtlos in den Schützengräben den tiefen Brummton beschreibt, den herumschwirrende Bombensplitter erzeugen. Details, die heute noch unter die Haut gehen. Mitunter schreibt er sich in eine schöne Wut hinein, die ihn, ohne dass er es ahnt, linken Ideen sehr nahebringt. So merkt er in „Civilisation und Wildniß“ lakonisch an: „Civilisation ist auch nichts anderes als die Kunst, sich selber Bedürfnisse zu erschaffen, um sie dann zu befriedigen.“
Und den Herausgeber der Gartenlaube, Ernst Keil, fragt er einmal, fast am Ende seines kurzen Lebens, in einem wirklich großen Moment seiner publizistischen Laufbahn, mehr naiv als polemisch in einem offenen Brief: „Was hätte ich auch in Deutschland gesollt? In ein geregeltes und besonders in ein abhängiges Leben paßte ich nicht mehr hinein.“ Das erinnert schmerzlich an Tucholsky.