von Heinz W. Konrad, Zürich
Betritt man diesen Raum, stellt sich sofort Vertrautheit her. Wiewohl, oder grade weil man sein Interieur zu kennen meint – hier steht man ihm nun direkt gegenüber: dem neubarocken Mahagoni-Schreibtisch mit den unverzichtbaren Utensilien, dem Ruhesessel, dam Sofa mit dem darüber hängenden Ölgemälde „Die Quelle“, das laut Thomas Mann „meisterhaft ausgeführte Jünglingsakte” zeigt, den wohlgeordnet gefüllten Bücherregalen fast ringsherum …
Wer sich einer fast spirituellen Andacht hingibt, muss allerdings eines sein: Verehrer von Thomas Mann. Denn was hier, im Bodmer-Haus* der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) nahezu 1:1 zum Original in Augenschein genommen werden kann, ist Manns Arbeitszimmer, wie er es in seinen letzten Lebensjahren im Zürich-nahen Kilchberg eingerichtet und genutzt hatte.
Thomas Manns Tagebücher weisen immer wieder aus, wie wichtig dem Literaten jene auf ihn zugeschnittene Arbeitsumgebung war, die ihn im Münchener Haus in der Poschingerstraße einst umgeben hatte. „Familiar surroundings mean much to a writer”, schrieb Thomas Mann 1941. Und auch, was er darunter verstand: „His accustomed books and walls, the view from the window of his study”; allem voran aber „his own desk”.
Gewiss, gearbeitet hat „Thommy“, wie ihn seine Frau Katia nannte, auch an anderen Plätzen, darunter auch höchst unkommoden, wie Eisenbahnabteilen bei langen Vortragsreisen durch die USA, im Strandkorb des gern besuchten Seebades Noordwijk in Holland oder in den Kabinen jener Schiffe, die ihn nach Übersee und zurück nach Europa brachten. Er tat dies im eigenen Urlaubsdomizil Nidden auf der Kurischen Nehrung und nicht zuletzt in den zahlreichen Hotels, wo die Manns kurten oder Urlaub machten. Wirklich in sich und bei sich ruhte und arbeitete Thomas Mann aber nur an „seinem heiligen Ort“, dem Arbeitszimmer; gleich, ob es im heimatlichen München, in den Exilorten Küsnacht, Princeton und Pazific Palisades, oder ab 1952 nochmals am Zürcher See in Erlenbach und zum Schluss in Kilchberg eingerichtet war.
Die als Persönlichkeits- und Zeitzeugnisse überaus aufschlussreichen Tagebücher Thomas Manns beschreiben mehrfach und ausführlich, welchen Aufwand die Manns betrieben haben, um Thomas an allen Heimstätten die jeweils individuellsten Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Die ihn umgebende Bibliothek, das heißt ein Teil dessen, was im Hause Mann an Literatur aufbewahrt wurde, gehörte dazu, noch mehr aber eben der legendäre Schreibtisch. „Mein Schreibtisch, Umstellung in der Library“, notiert TM am 7. Oktober 1938, als sich die Familie in Princeton einrichtet, dessen Universität eine Gastprofessur für Manns Einstieg in ein amerikanisches Leben vergeben hatte. „Mein Münchener Lesestuhl, Medis** Kopf, die Schweizer Uhr. Höchste Phantastik, die Dinge hier wieder um mich zu haben. Genaue Wiederherstellung des Schreibtischs, jedes Stück, Medaillen, ägyptischer Diener, genau an seinem Platz wie in Küsnacht u. schon in München.“
15 Jahre später – die Manns sind nach Europa zurückgekehrt und siedeln zunächst in Erlenbach am Zürichsee – ein ähnliches Beglückungs-Bekenntnis im Tagebuch vom 25. Januar 1953: „Dann Ordnung des Schreibtisches, dessen Bild genau nach altem Muster wiederherstellte. Versorgung von Manuskript, Hochstapler-Material etc. Habe wieder vor mir den siamesischen Krieger mit der schönen Schulterlinie und die Münchener Empireleuchter. Die Münzen und der große chinesische Aschenbecher an ihren alten Plätzen. Elephantenzahn, Falzbeine von 1935, Briefe mit Pflanzenabdruck in Schiefer und den anderen Steinen beschwert.“
All das lässt sich im Gedenkzimmer des Bodmer-Hauses in Augenschein nehmen: Tischuhr, Leselampe, Abreiß-Kalender, bronzener Buddha, eingerahmt von zwei Kerzenständern aus Messing, ägyptische Figurinen, Fotos seiner Ehefrau Katia sowie seiner Enkel Frido und Toni, eine alte russische Zigarettendose, das Porträt des florentinischen Priesters Savonarola, eine silberne Plakette mit dem Profil Tolstois… – und selbstredend die eigentlichen Schreibwerkzeuge.
An diesem Tisch ist wahrlich große Literatur entstanden – ein Werk, das hinsichtlich seiner Bedeutung für die deutsche und die Weltliteratur nicht selten dem Goethischen an die Seite gestellt wird; gelegentlich durchaus auch von TM selbst, wie man den Tagebuchnotaten entnehmen kann. Lange Zeit ist dem Nobelpreisträger indes nicht verblieben, in diesem Kilchberger Arbeitszimmer zu wirken. 1953 in die Schweiz zurückgekehrt, reichte die Kraft des bereits 77-jährigen nicht mehr, um neuerlich ein Werk von der Größe des Josephs-Romans oder des Dr. Faustus in Angriff zu nehmen; der wiederaufgenommene Stoff des Felix Krull blieb unvollendet.
Am 12. August 1955 starb Thomas Mann. Am Kilchberger Haus mit dessen wunderschönem Blick auf den Zürichsee erinnert heute eine Tafel an diese letzte Lebensphase. Auf dem Friedhof auf der Anhöhe des Ortes zieht das Familiengrab der Manns Jahr für Jahr Verehrer aus aller Welt an. Gemeinsam mit Thomas und Katia Mann sind hier auch die Töchter Erika, Monika und Elisabeth sowie Sohn Michael beigesetzt. Sohn Klaus, Schriftsteller wie sein Vater, ruht im französischen Cannes. Thomas Manns mittlerer Sohn Golo ist ebenfalls auf dem Kilchberger Friedhof beerdigt. Mit seiner Familie am Ende unversöhnt, hat der Publizist und Historiker eine Grabstätte mit Abstand zu dem seiner Eltern gewählt …
Nachtrag: Hatte Thomas Mann während seiner 14 Jahre in den USA zunächst für eine Verwaltung seines Nachlasses durch die Universität von Yale optiert, so änderte sich dieser Wunsch, als er aus den USA des Kalten Krieges enttäuscht nach Europa zurückgekehrt war. 1956 schloss die Familie Mann mit der ETH Zürich einen Schenkungsvertrag, der die Schaffung einer „würdigen und allen Interessenten offen stehenden Heimstätte” für den Dichter ebenso bestimmte wie „die Erforschung von Leben und Werk des Dichters und ihrer Verflechtung mit seiner Zeit“. 30.000 Manuskriptseiten, Tagebücher, Notizbücher und Briefe lagern seitdem in unmittelbarer Nähe zum Komplex der TH. Hinzu kamen Thomas Manns umfängliche Nachlassbibliothek sowie umfangreiche Pressedokumente.
* – Hier lebte von 1739 bis 1783 der einflussreiche Übersetzer, Literaturförderer und Literaturtheoretiker Johann Jakob Bodmer; zu seinen Gästen zählten unter anderem Klopstock, Wieland und Goethe.
** – Kosename für Manns jüngste Tochter Elisabeth
Geöffnet hat das Gedenkzimmer im Zürcher Bodmer-Haus in der Schönberger Straße 15 mittwochs und samstags von 14.00 bis 16.00 Uhr – bei freiem Eintritt.
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