von Klaus Hammer
Der achtbändige Zyklus „Orkus“ des Österreichers Gerhard Roth umfasst die Bände „Der See“ (1995), „Der Plan“ (1998), „Der Berg“ (2000), „Der Strom“ (2002), „Das Labyrinth“ (2005), „Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien“ (2009), „Das Alphabet der Zeit“ (2007) und nun „Orkus. Reise zu den Toten“ (2011), den letzten Band dieses gewaltigsten Erzählprojekts, das die zeitgenössische Literatur kennt. Der Autor bedient sich sowohl der traditionellen Romanform (einschließlich der Autobiographie) als auch der Dokumentation und des Berichts sowie des literarischen Essays, des Gesprächs und der Fotografie, des Tag- und Nachttraums, lässt dem Unbewussten, ja auch dem Wahnhaften freien Lauf. Er verliert sich in Assoziationen, Andeutungen, Verweisen, mischt Wirklichkeits- mit Traumbericht, schlüpft in verschiedene Identitäten, die wiederum eigene Lebensgeschichten ergeben. Vielperspektivität, Vieldimensionalität werden angestrebt. So kommt es zu einer zerstückelnden Darstellungsweise; nicht die Kausalität und das Handlungskontinuum dominieren, sondern die Fiktionalität des zerstückelten Erzählzusammenhangs. Ein Strom frei assoziierender Gedanken, ein übergangsloses Hin- und Herspringen zwischen den verschiedenen Zeitebenen, von der Perspektive der erzählten Figur beziehungsweise der des (autobiographischen) Erzähler-Ichs zur auktorialen eines sich keineswegs „allwissend“ gebenden Autors. Die fünf ersten Bände bezeichnet Roth als „Roman“, aber es ist eben nicht die klassische Romanform, sondern eine Mischform, in der die unterschiedlichsten Bestandteile vertreten sind. „Die Stadt“ wird als „Essays“ und „Das Alphabet der Zeit“ und „Orkus“ jeweils als „Erinnerungen I und II“ ausgewiesen.
Der „Orkus“-Zyklus erstreckt sich als moderne „Odyssee“-Version über verschiedene Kulturkreise, führt vom Neusiedler See im Burgenland („Der See“) nach Japan („Der Plan“) über Griechenland, den Berg Athos und Istanbul („Der Berg“) bis Ägypten („Der Strom“) und zurück in den habsburgischen Raum – vor allem nach Wien und in die Steiermark – und dann weiter nach Spanien, Portugal und Madeira (die letzten vier Bände). Der moderne „Odysseus“ ist jeweils ein anderer, der Pharmavertreter Paul Eck in „Der See“, der Bibliothekar Konrad Feldt in „Der Plan“, der Journalist Viktor Gartner in „Der Berg“, der Reiseleiter Thomas Mach in „Der Strom“, der Pflegegehilfe Philipp Stourzh, der Psychiater Heinrich Pollanzy und der „Schriftsteller“ – das ist Gerhard Roth selbst – im „Labyrinth“, Gerhard Roth in Wien in der „Stadt“ und Gerhard Roth in der Steiermark im „Alphabet der Zeit“ und abermals der „Schriftsteller“ (Gerhard Roth), multipliziert in den „erfundenen“ Figuren vorangegangener Romane oder Fremdfiguren wie der stumme Schizophrene Franz Lindner, der Rechtsanwalt Alois Jenner, eine antagonistische und ergänzende Figur zu Lindner, der Untersuchungsrichter Sonnenberg, der Chirurg Ascher, der jüdische Emigrant Karl Berger, der eigentlich Walter Singer hieß, Paul Eck, Konrad Feldt, Viktor Gartner und Thomas Mach, im abschließenden „Orkus“-Band. Der Ich-Erzähler verschmilzt also zusehends mit den Protagonisten seiner Werke: „Alle Figuren bin ich selber. Meine Arbeit ist eine umfangreiche Selbstbeschreibung“. Weil aber dieses Ich nicht mehr mit sich selbst identisch ist, zerfällt auch alles andere in Details, das Wirkliche wird zum Unwirklichen, das Wesentliche zum Unwesentlichen. Und im Unwirklichen soll man wieder das Wirkliche, im Unwesentlichen wieder das Wesentliche suchen – ein circulus vitiosus?
Der letzte Band „Orkus. Reise zu den Toten“ ist sozusagen die Quintessenz, der Schlüssel zum ganzen „Orkus“-Zyklus, ja eigentlich der beiden Zyklen, denn es werden hier auch Querverbindungen zu dem vorangegangenen Zyklus „Die Archive des Schweigens“ (1980-1991) gezogen. Wird er ohne Kenntnis der Zusammenhänge des Zyklus – beider Zyklen – überhaupt les- und deutbar sein? Er erscheint als ein autobiographischer Text, und doch löst sich der autobiographische Ich-Erzähler immer wieder in die Figuren seines Zyklus, auch in Fremdfiguren, so auch in den gleichnamigen Biologen und Gehirnforscher Gerhard Roth, auf. Er ist einfach nicht zu fassen, entschwindet immer wieder aus der andeutungsweisen biographischen Struktur in andere Bereiche, reale wie fiktive, äußere und innere, fremde wie eigene so genannte „Kopfwelten“.
Auf die Frage nach dem Untertitel des „Orkus“-Bandes „Reise zu den Toten“ hat Roth geantwortet: „Die Literatur ist ein Dialog mit den Ungeborenen, den Lebenden, den Toten und mit einem selbst. Beim Lesen von literarischen Büchern vereinigen sich diese Möglichkeiten auf geradezu wundersame Weise. Ich arbeitete in meinen beiden Zyklen also auch an dem ewigen Projekt der Literatur mit, die Gegenwart in die Zukunft zu retten und die Vergangenheit in die Gegenwart“. Und an anderer Stelle: „Die Hölle selbst, den Orkus, fand ich im Unbewussten der Menschen. Auch die Sehnsucht nach dem Paradies ortete ich dort, als Antwort auf die Angst, die durch die Ungewissheit der eigenen Zukunft und die Gewissheit des Todes präsent sind“.
Der Ich-Erzähler, das schreibende, lesende, recherchierende, erzählende, reflektierende, interpretierende, träumende, imaginierende Ich unternimmt Erkenntnisreisen in die „innere“ wie „äußere“ Autobiographie, Diesseitsreisen ins Jenseits, Jenseitsreisen ins Diesseits, Forschungsreisen in das Unterweltsthema „Orkus“ mit all seinen Bedeutungsvarianten des Unbewussten, Verbrecherischen, Grauenhaften, Wahnsinnigen und des Todes. Er holt sich zur Unterstützung die Figuren aus seinen beiden Zyklen hinzu, sympathisiert mit ihnen oder setzt sich mit ihnen auseinander, schreibt ihre Biographien zu Ende, versammelt Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Politik um sich, die Opfer wie die Täter der Geschichte, sucht Gedächtnisstätten, Museen, Archive, Anstalten, Institutionen, auch Friedhöfe auf. Aus anderen Bänden des Zyklus bereits bekannte Orte mischen sich mit neuen Örtlichkeiten, die einen Hinweis auf die zentralen Themen der literarischen „Hadesfahrt“ geben.
Ein schwer durchdringliches Gewebe aus Andeutungen und Anspielungen – das ist die Erzählform, die Gerhard Roth glänzend beherrscht. Er hat diese Benennungsscheu, diese paradoxe Einheit von Zeigen und Verbergen, Darbietung und Zurücknahme, Annäherung und Entfernung immer weiter perfektioniert, diesen Tonfall einer faszinierend zögerlichen Erzählweise. Sie praktiziert er an Figuren, die einer existenziellen Krise ausgesetzt sind. Sie werden krank an Leib und Seele. Die Krankheit bringt sie an den Rand des Todes, macht ihren Körper zum Seismographen. Während sie die Muster und Zeichen zu deuten suchen, die ihnen die Außenwelt anbietet, werden sie aus ihrem Innern gelenkt, das auf verborgene Weise mit der Außenwelt zu korrespondieren scheint. Der permanente Wechsel der Erzählperspektive macht das menschliche Drama auch zugleich zu einem Zeitdokument. Eine individuelle Krankheitsgeschichte, die auch die Krankheitsgeschichte der Zeit – und Bilanz einer Epoche – geworden ist.
Gerhard Roth: Orkus. Reise zu den Toten, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 668 Seiten, 24,95 Euro.
Schlagwörter: Gerhard Roth, Klaus Hammer, Orkus