von Renate Hoffmann
Auf dem Hauptmarkt in Trier weht kühle Morgenluft. Die Verkäufer hauchen ihre Hände warm und rücken das Obst- und Gemüseangebot an den Ständen ins-Auge-fallend zurecht. Düfte und Farben; ein sinnebetörender Markttag beginnt.
Wer einem Flusse folgen will, der überlege beizeiten, wo und wann und ob er überhaupt das Ufer wechseln möchte, weil auf der anderen Seite etwas Beachtenswertes liegt. Bäche wären zu durchwaten – Mosel und Saar nicht!
Ich nehme Abschied von „Secunda Roma“, Trier, dem zweiten Rom, passiere eine der Brücken und wandere flussaufwärts. Der Morgen kann sich noch nicht entscheiden, wie der Tag werden soll. Nebelbänke liegen über der Mosel, ein leichter Wind bringt sie zum Schwingen. Wasser zur Linken, schütterer Auenwald zur Rechten. Und leise Töne. Das Schlagen der Wellen an der Uferböschung; Vogelrufe; ein knarrender Ast irgendwo. Dazu der Rhythmus des eigenen Schrittes im sich wandelnden Bild der Landschaft. Fernab vom lärmenden, belanglosen Treiben. Ist das die Lust des Wanderns?
„Schloss Monaise müssen Sie besuchen“, empfahl der Pensionswirt in Trier. „Weshalb?“ „Weil … Sie werden es schon herausfinden.“
Unterwegs mehren sich die Hinweise auf diese Sommerresidenz. Zwischen stattlichen breitkronigen Parkbäumen macht sie auf sich aufmerksam. Monaise – meine Muße, mein Behagen, meine ungebundene Zeit. Ein weiß leuchtender Bau, der schmal und hoch aufragend den französischen Frühklassizismus vertritt. Von edler Strenge, in seinen Proportionen ungewohnt. Und selten in deutschen Landen anzutreffen. Das war wohl der verborgene Sinn der Empfehlung.
Das Haus ist verschlossen. Ich drücke einen Klingelknopf. Es wird mir aufgetan. Zwar wäre Ruhetag, das sei aber kein Hindernis, doch hereinzukommen. – Die Räume, in Lichtgrün und mit getöntem Weiß wechselnd, verbreiten helle Festlichkeit. Türzier, Stuckdecken, Kamine; Kronleuchter, die unter den Schritten leise klirren, erhöhen den Glanz. Der Blick aus dem Fenster verweilt auf Park und Fluss, über dem sich der feine Dunst lichtet. Unter der säulentragenden Loggia führen Treppen in den weitläufigen Baumgarten hinaus.
Dem Trierer Domdechanten und späteren Dompropst Philipp Franz Wilderich Nepomuk Graf von Walderdorff schwebte diese schlanke Schönheit vor, gedacht für beschauliche Tage auf dem Lande. Er beauftragte den französischen Architekten und Baumeister Francois Ignace Mangin. Und Monsieur Mangin schuf in der Zeit von 1779 bis 1783 ein Landhaus nach Walderdorffs Geschmack. Der nun bekräftigte seine Absichten, den Sommersitz betreffend, mit einem Ausspruch Cicerios, angebracht unter der Dachbalustrade: OTIUM CUM DIGNITATE – Muße mit Würde.
Der Weg führt nach Zewen, einer Ortschaft, in der ich nicht verweilen wollte. Dass es doch geschieht, – liegt an der guten Kürbisernte in diesem Jahr. Am Ortseingang wirbt ein Hofladen: „Kürbisverkauf, riesen Auswahl, klein, groß, dick, dünn.“
In diesem Falle nicht zum Kaufen, aber zum Schauen verführt, schwenke ich ab und verfolge die angezeigte Spur „der Riesenauswahl“. Der Hof quillt über von den lustigen Früchten, die den schrulligen Namen Cucurbita pepo tragen. Ihre Farbenvielfalt ist nicht zu überbieten, eigentlich fehlt nur noch ein Blauton. Hinzu kommen Farbkombinationen und Formenreichtum: gesprenkelt, getüpfelt, gestreift, meliert; flaschenförmig, bauchig, oval, gestaucht; mit Streben, Warzen und verschrobenen Auswüchsen bestückt. Der Anblick überwältigt. Dagegen ist eine Ananas die pure Langeweile.
Die Sonne schafft sich Bahn. Hagebutten und auf den Weg herabtrudelnde Blätter zeigen den Herbst an. In der Ferne ist die Einmündung eines Flusses zu erkennen, der die Mosel zu einem See weitet. Uferwechsel. Hinüber nach Konz und zum Wasser hinunter. Ich stehe an der Saar. Die Vereinigung der Flüsse ist majestätisch. Beide geben sich ebenbürtig stolz. Das Mündungsmonument, ein mit Rost patiniertes wuchtiges Dreieck, kennzeichnet den Ort des Übergangs. Daneben führen Stufen in den Zusammenfluss. Ich tauche die Füße hinein und plätschere in dem authentischen Ha-zwei-O-Gemisch aus Mosel und Saar.
Was Wanderungen stets begleitet und einen ihrer Vorzüge ausmacht, ist die Möglichkeit der Wahl. Eigentlich wollte man in diese Richtung, schlägt aber, durch irgendetwas aufmerksam und neugierig geworden, jene ein. – Das Hinweisschild auf einen gallo-römischen Tempelbezirk lenkt mich vom Saarfluss ab und bei Tawern (das in römischen Zeiten Taberna hieß) zum Metzenberg. Hier verlief ehemals eine Fernstraße, die vom Mittelmeer kommend die Städte Metz, Trier und Köln verband und Kontakt zur Weltzentrale Rom hielt.
Der Pfad führt durch dichten Laubwald, der sich zum Färben anschickt und die Mittagssonne schluckt. Auf der Anhöhe brechen Apfelbäume fast unter der Last ihrer Früchte. Gefallene Walnüsse bleiben als fettiger Brei zwischen den Steinen zurück. Ein Forstfahrzeug hat sie zerdrückt. Die Esskastanie trägt gute Ernte.
Tawern zieht sich lang hin. Ich frage nach der Tempelanlage. Die Auskunft ist unmissverständlich: „Immer die Römische Straße entlang, und dann nach oben. Dort werden Sie den schönsten Blick ins Moseltal und nach Trier haben.“ Hatte ich „Augusta Treverorum“ in der Nähe betrachtet, so wollte ich die Stadt auch aus gehobener Position und mit gehörigem Abstand besehen. – In spiraligem Anstieg zur Höhe hinauf.
Ich stehe an den ummauerten Kultbauten, Ausgrabungen und Rekonstruktionen. Vom reichbevölkerten Götterhimmel herabgeholt, besaß hier Merkur das Hausrecht. Als Schirmherren von Handel, Wandel und Verkehr hatten die reisenden Römer – und wer sonst noch vorbeikam – auf ihn gesetzt. Der Weg von und nach Rom war weit, die Reise beschwerlich und gefährlich. Also opferte man Merkur auf dem Berge und versah sich seines Wohlwollens.
Ein heidnischer Wandersegen kann nicht schaden, überlege ich und fixiere die Merkur-Statue im Haupttempel für einige Sekunden. Ich möchte zwar nicht nach Rom und heute nur bis Saarburg – doch über diese Entfernung wird der Segen schon anhalten.
Sieben Kultbauten hatten die Römer hier errichtet. Merkurs Tempel war wohl der wichtigste unter ihnen. Ein Umlauf mit toskanischen Säulen und die rechteckige Cella betonen die Vorrangstellung des Gottes. Soweit es sich durch Grabungen und Funde aus einem Brunnenschacht belegen lässt, opferte man auch anderen Mitgliedern der römischen Götterfamilie. Epona, die Pferdegöttin und Beschützerin der Fuhrleute war unter ihnen. – Weihealtäre, Bruchstücke gefallener Säulen, Grabsteine und Abflussrinnen werden zu Zeugnissen einer großen Vergangenheit.
Außerhalb des Tempelbereiches stehen die Mauern eines Profangebäudes, in dem einstmals Priester, Reisende und Pilger Unterkunft fanden. Zwischen dem 1. und dem 4. Jahrhundert herrschte reges Begängnis auf dem Berg.
Meinen abwegigen Ausflug krönt die Fernsicht über Tawern, Felder, Wald und Wiesen nach Trier, das sich zu beiden Seiten der Mosel drängt. Der Römer Decimus Magnus Ausonius (um 310 bis nach 393) erhält das Wort: „Friedlich fließen die Wasser vorbei; du hast nicht des Windes / Brausen zu dulden. / Nirgends schießt du dahin in tosenden Wirbeln, es zwingt dich / Nichts zur Eile … / Aber wo fänd’ ich ein Ende, o Mosel, des Singens und Sagens, / Meeresgleiche, von dir und den bläulich schimmernden Fluten.“ (aus: „Mosella“) Ich wähle endgültig die Richtung zur Saar. Der Abstieg vom Metzenberg endet in einem lieblichen Wiesental mit Bach, der angenehme Kühle verbreitet.
In Saarburg finde ich Quartier unten am Fluss. Das Haus steht, wie auch seine benachbarten Gebäude, fest gefügt schon mehr als zweihundert Jahre. Dicht rankende Glycinen verbergen die alten Mauern. Eine Tür ist einladend geöffnet; man darf eintreten und wird willkommen geheißen.
Bevor der Tag zur Neige geht, erkunde ich die Burg. Wie die meisten Bauwerke ihrer Art ist sie hochbetagt (10. Jahrhundert). Sie wurde belagert, geplündert, zerstört, wieder aufgebaut, in Brand gesteckt – wieder vorgerichtet und erobert und geplündert … bis das Interesse an ihr erlosch. Sie verfiel. Die Stadt erwarb sie 1860 für 325 Taler und verhalf ihr zu einem gepflegten Ruinendasein – mit Burgrestaurant!
Zur Umschau ersteige ich den mächtigen ummantelten Turm. Der Rundblick umfängt bewaldete Höhen, kulissenhaft ineinander geschoben, Weinberge, den Schlängellauf der Saar; die Häuserschar, von der Oberstadt bis hinunter zum dicht gedrängten ältesten Stadtteil am Fluss.
Von der Unterkunft „Im Staden Nr. 104“ hieß es, sie sei billig, freundlich und es gäbe ein reichhaltiges, allseits gerühmtes Frühstück. Die Vorhersage trifft zu – und wird noch überboten! Die Besitzerin erteilt mir beim Verabschieden den christlichen Wandersegen (der bis Saarbrücken, dem Reiseziel, wirksam sein soll, wie sie versichert), und ich erhalte ein Proviantpaket, von dem ich die nächsten Tage und Kilometer gut werde leben können.