von Harry Popow
Da gerinnt das Blut in den Adern: In der ZDF-Serie „Reich und obdachlos“, in der Begüterte in der Kluft Obdachloser für einige Tage Probleme der Armen kennen lernen sollten, „erkannte“ eine Hamburger Galeristin empört, ja, Obdachlose werden missachtet, werden als der letzte Dreck angesehen, nicht als Menschen. Man merkte es ihr an, ihr war nach Heulen zumute. Sie fragte aber nicht, warum das so ist. Warum diese sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich? Keiner der teilnehmenden Millionäre dachte darüber nach. Warum eigentlich nicht?
Unglaublich: Sie sehen mit eigenen Augen das Elend, spüren aber auch den Reststolz der am Rande der Gesellschaft Lebenden. Machen also persönliche Erfahrungen – und doch bleibt ihr Denken in der bloßen Anschauung stecken, im Symptom. Warum? Wegsehen, weil man angeblich nichts bewirken könne, Zufriedenheit, die einen zudeckt? Wo doch täglich aufs Neue Pleiten in der Gesellschaft passieren. Taube Ohren? Taube Augen? Tote Seelen?
Im Schattenblick war per Internet zu lesen: „250.000 Menschen gelten in Deutschland als wohnungslos – Tendenz steigend. Jeder sechste Deutsche ist armutsgefährdet, könnte abrutschen und – wenn es ganz schlimm kommt, auf der Straße landen. Das Risiko zu verarmen hat längst die Mittelschicht erreicht. So weit die Fakten. Grund genug für Journalisten, das Thema Obdachlosigkeit aufzugreifen und darüber zu berichten. Aber wie?“
Nun, das ZDF – und nicht nur diese Medium – hat es versucht und ist erbarmungslos in den Augen wohl der meisten Zuschauer abgerutscht, weil die Serie zu flach und oberflächlich daherkam. Ohne Tiefe, ohne ein gesellschaftliches Resümee zu ziehen. Schade um die Gebühren!
Auch ich sehe oft einen, der bettelnd vor dem Eingang des Supermarktes steht. Einen Menschen. Nahezu täglich, nun schon Jahre, da man ihn sieht, bei Wind und Wetter. Nicht die Hände ausgestreckt. Keinen Hut vor sich auf dem Erdboden. Ruhig und lächelnd steht er da wie eine Statue. Jeden höflich „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ ansprechend. Blaue Augen, tränenlos. In unseren Taschen finden wir etwas Kleingeld. Jedesmal. Er bedankt sich.
Da steht er also, was mir vorkommt, er stünde er auf einem Bahnhof und dürfte und könnte nicht in einen Zug steigen, der ihn mitnähme in ein menschenwürdiges Dasein. Und die an ihm Vorübereilenden: Da er öfter dort steht, ist er kein Unbekannter. Sicher, einige reichen ihm Almosen. Und gehen befriedigt weiter, etwas Gutes getan zu haben. Warum nicht? Andere senken verschämt die Köpfe, sausen schnell vorbei an einem für sie unfassbaren Häuflein Unglück. Ihm ein paar Cent geben? Ist das die Lösung? Vor Jahren fragte ich mal einen Obdachlosen: Gibst du mir auch etwas, wenn ich arbeitslos bin? Aber ja, antwortete er und wir lachten beide und ich steckte ihm ein Almosen zu.
Wegschauen! Verächtlich dreinschauend! Flink vorübergehen! Feigheit? Sich als etwas Besseres fühlend, trotz der klitzekleinen „Erfahrungen“ wie die Frau in der ZDF-Serie? Ist das zur Gewohnheit geworden? Hat sich Kälte eingefressen in unser noch wohlbehütetes Dasein? Die Macht der Selbstzufriedenheit! Wie stark muss die Mauer um einen sein, wenn man außerhalb seines Ichs, außerhalb seiner „Geschäfte“ nichts mehr sieht, nichts mehr wahrnehmen will? Ist es nicht an der Zeit, diese sehr schwerwiegenden inneren Widerstände einzureißen? Schauen wir etwas genauer hin: Wer macht es denn den Leuten schwer, mehr Kopfarbeit zu leisten?
Die flunkernden Medien, die Politik – alle machen sie einen großen Bogen um tiefere gesellschaftliche Ursachen. Nicht, dass das Wort Profitmaximierung nicht fiele, das vor Jahren noch stets totgeschwiegene Wort „Kapitalismus“. In allen Talk-Shows hört man es hin und wieder. Und dann? Wie weiter? Keine Lösung angedacht? Sind die Deutschen zu feige, an der Macht zu rütteln? In der DDR ging das doch so einfach, aber aus ganz anderen Gründen. Und nun? Keiner glaubt doch mehr an ein Land des Aufblühens. Niemand. Eine Alternative muss her, so unverzüglich wie möglich! Da ist aber die Sperre im Kopf: Da wird nichts angedacht. Komplexes Denken, dies hat Gesine Lötzsch (DIE LINKE) einmal in einer TV-Gesprächsrunde auf den Punkt gebracht. Man verstand sie erst gar nicht. Wo sind wir gelandet? Wohin fährt der Zeitenzug?
Bleiben wir beim Symbol des Bahnhofs. Der Zug fährt ein. Alle wollen und müssen mitkommen. Die Egoisten, die Eiferer, die Arroganten, die Narzisten, die Herrschenden, die Volksverdummer. Sie haben nur ein Ziel: Nichts zu verpassen. Weder den noch existierenden Arbeitsplatz noch den Anschluss an die Gesellschaft. Mithalten ist die Devise. Sich verkaufen müssen. Die Furcht vor Verlusten treibt sie voran, der Konkurrenzkampf. Ganz oben sein. Auf Biegen und Brechen. Zurückschauen auf den zurückbleibenden Obdachlosen? Warum? Jeder muss zusehen, dass er über die Runden kommt. „Das Bewußtsein der Vielen fuhr immer im letzten Wagen des Zeitenzuges“, schreibt Maximilian Scheer in seinem Buch „Paris-New York“.
Was sagt zum Beispiel der französische Philosoph Lucien Sève in seinem Artikel „Der Mensch im Kapitalismus“ (siehe Das Blättchen 26/2011) zu diesem sehr menschlichen Problem? „Wir stehen an der tragischen Schwelle zu einer Welt, in der der Mensch nichts mehr wert ist. Das drückt sich im ‚Schicksal’ derer aus, die arbeitslos, obdachlos, heimatlos oder perspektivlos sind. Aimé Césaire hat in diesem Zusammenhang von der ‚Fabrikation von Wegwerfmenschen’ gesprochen. Dabei werden diejenigen fett, die alles zu Geld machen – unvorstellbar hohe Gehälter, goldener Handschlag –, aber es läuft auch bei ihnen auf dasselbe hinaus: den Verfall aller Wertmaßstäbe. Der einzige ‚Wert’, der sich zum Maß aller anderen macht, ist nur noch selbstbezüglich und ohne jeden eigenen Wert. Der Finanzsektor hört nicht auf, sich mit virtuellen Nullen aufzublähen, die milliardenweise verschwinden, sobald die Blase platzt. Zurück bleibt die harte Wirklichkeit für die Produzenten des Realen. Ist diese Auflösung der Werte weniger schlimm als das Abschmelzen der Pole? Unsere Menschlichkeit selbst steht auf dem Spiel – ist uns das in vollen Ausmaß bewusst?“
Der Mensch im Kapitalismus. Na schön, sagen viele Zeitgenossen. Wir leben, und ändern können wir ohnehin nichts. Daniil Granin stellte in seiner interessanten Reisereportage „Garten der Steine“ unter anderem fest, dass der Kapitalismus auf der Straße recht unsichtbar ist und nicht so leicht zu entlarven sei, womit er recht hat. Aber die Bettelnden – sind sie nicht ein augenfälliges Beispiel für die seelische und physische Armut dieser Gesellschaft, die überdies immerfort von der Einhaltung der Menschenrechte faselt?
Ich sehe ihn noch vor mir: Den Bettler vor der schwedischen Kirche in Karlskrona, als wir einst für viele Jahre in Schweden wohnten. Da steht eine Holzfigur, genannt der „Gubben Rosenbom“. Durch den Roman „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson“ von Selma Lagerlöf weltberühmt geworden, jetzt der meistfotografierte Alte in Schweden und das Erkennungsmerkmal von Karlskrona. Was mich aber sehr bewegte, das ist der Spruch auf einer kleinen Tafel: „Demütig ich bitte sehr, die Stimme ist nicht gut, gib mir ein Taler her, doch lüpf dafür den Hut.“ Wie würdevoll!
Ich hoffe, später einmal, da werden die – aus welchen Gründen auch immer – rücksichtslos aus der Lebensbahn Geworfenen ihren Bettelplatz mit einem Arbeitsplatz vertauschen können. Dann erst zieht auch unser Mann vor dem Supermarkt seinen Hut vor denen, die die Welt verändert haben. (Ich sehe sie vor mir, die Kapitalanbeter, die Nutznießer, wie sie sich kaputtlachen.)
Der Zeitenzug! Er rast wohin? Eines steht fest: Die Oberflächlichkeit, die menschliche Kälte, die Diktatoren des Geldes – sie fahren in den vordersten Waggons. Die Nachdenklichkeit, das Bewusstsein vom schlimmen Zustand unserer Welt, sie werden auf den letzten Waggon verbannt. Da sollte man doch schnellstens die Lokomotivführer wechseln und ihnen die Weichen stellen zur Fahrt in eine humanistischere Welt. Nicht die Ausgestoßenen, die auf dem Bahnsteig zurückbleibenden, sind die Ärmsten, nicht sie.
Vielmehr hochgradig jene, die mit politischer Blindheit Geschlagenen, die Finanzkraken dieser Welt, die personifizierte Gier – noch sitzen sie bequem in der ersten Klasse, verteufeln jegliche Alternativen und träumen vom „Kohlemachen“, vom nächsten Extraprofit, die Welt in den Abgrund schleudernd. Und ahnen nicht einmal, wie gefährlich, wie verbrecherisch und überflüssig sie in einer nur finanzbeherrschten globalisierten Welt geworden sind.
Schlagwörter: Almosen, Alternativen, Harry Popow, Kapitalismus, Zeitenzug