von Chris Rockwell, New York
Philadelphias Broadstreet nennt sich auch Avenue of the Arts, sie ist die stattliche Magistrale, die direkt zum Rathaus führt, vor dem wie in weiteren 400 amerikanischen Städten seit Wochen Demonstranten kampieren und die Machenschaften des Finanzkapitals und seiner Helfer anprangern. Die Universität der Künste, die hier in der Nachbarschaft von Theatern, Konzerthäusern, Galerien, Banken und 5-Sterne-Restaurants in imposanten Gebäuden residiert, die alle auch die einstige wirtschaftliche Kraft dieser Metropole erahnen lassen, hat mit Bertolt Brecht einen der wirksamsten Kritiker des außer Rand und Band geratenen kapitalistischen Systems für fünf Wochen in ihr Programm genommen: „Die Straße“ hat für kurze Zeit das Sagen. Vermutlich nie zuvor war die Beschäftigung mit einem Theatertext derart am gesellschaftlichen Geschehen der Zeit orientiert.
So wie die „occupy Wallstreet“-Bewegung Solidarität und Identität in den sozialen Kämpfen zu schaffen trachtet, so scheinen die 21 Darsteller den bislang hingenommenen Theaterkanon ihrer Ausbildungseinrichtung, einer üblichen undergraduate-Pflanzstätte nach innen gerichteter Selbstfindung, in Frage zu stellen. Die Aufführung der Studenten, die alle um die 20 Jahre jung sind, gewinnt ihre mitreißende Kraft und Phantasie aus der Lust an dem ihnen fremden Fabulieren. „Vorgänge statt Gefühle, Abbildungen von widersprüchlichen Verhalten anstelle der Suche nach Charakteren, waren unser Focus“, beschreibt die Darstellerin der Doppelrolle Shen Te/Shui Ta, Erin Carney, die Arbeitsweise des deutschen Regisseurs Heinz-Uwe Haus. Die Beobachtungen vor der eigenen Tür an der Broadstreet demonstrieren dem Zuschauer das anscheinend ferne Sezuan und die Überlebenskämpfe seiner Bewohner als nahe, doch verdrängte Erfahrung, der es sich zu stellen gilt, auch wenn das dem amerikanischen Traum liebgewonnene Illusionen zerstört.
Es ist Brechts wesentliches künstlerisches Ziel, den menschlichen Konflikten ihre Schicksalhaftigkeit zu nehmen. Er erfasst in den Konflikten die gesellschaftlichen Bezüge auf eine Art, dass der Zuschauer Einsichten gewinnt, auch wider Willen. Brechts Kunstgriff, das Stück scheinbar ohne Lösung zu lassen, ruft im Zuschauer Unbehagen an der Ergebnislosigkeit hervor, stachelt ihn an, das Unlösbare lösen zu wollen. Die Parabelform jedoch agitiert nicht, vermeidet ideologischen Furor, und erhebt so den Zuschauer zum deus ex machina. Fragen über Fragen werden geweckt: Besserung der Umstände, doch nicht Behebung des Dilemmas? Ist die Alternative „gut sein oder leben“ an die kapitalistische Gesellschaftsordnung gebunden? Ist der Schein nicht eigentlich nur scheinbar? Was spricht gegen Teillösungen, wenn doch die Frage nach der Ganzlösung offen bleibt? Es ist die echte Ratlosigkeit der Parabel, die sie so aktuell im amerikanischen Herbst 2011 macht.
Regisseur Heinz-Uwe Haus (vor einem Jahr erst hatte seine Inszenierung des „Arturo Ui“ mit dem REP Theatre im Nachbarstaat Delaware nationale Aufmerksamkeit gefunden; Das Blättchen 11/2010) vergewissert sich mit drei theatralischen Zugriffen die Bereitschaft des Publikums, hinzusehen und hinzuhören: Er schafft ein Ensemble, das gemeinsam eine Lesart des Stücks findet (realisiert unter anderem in kollektiven Zwischenspielen, einem Prolog und Epilog, die die marodierende Isolation des Einzelnen aufheben); maskiert die Figuren, sodass eine eigene poetische Welt ersteht (in der er die „Puppen tanzen“ lässt), wählt Kostüme, die aus Mülltonnen und second hand-Militärläden stammen (was nicht nur konträr zur gelehrten Ästhetik steht, sondern den herrschenden Ich-Zeit-Geschmack stört). Unterstützt von vertrauten Mitarbeitern – Linda Henderson (musikalische Leitung), William Browning (Bühnenbild und Licht) sowie Andrea Barrier (Masken) – werden den Darstellern Möglichkeiten eröffnet, die vor allem ihre spielerischen Instinkte mobilisieren. Unter der Hand mag da vor, auf und hinter Bühne auch öfter die Frage aufkommen, die ein witziger Nachbarzuschauer so stellte: „Warum Brecht und nicht Britney Spears, die sich, wenn’s wohltut, für die ganze Welt eine Verzweiflungsglatze scheren lässt?”
Die Bedeutung der Aufführung im Arts Bank Theater, einem ehemaligen Bankgebäude, liegt vor allem in ihrer Sprengkraft nach innen, in der (hoffentlich langzeitlichen) Herausforderung der Theaterausbildung. Während noch vor 30 oder 40 Jahren das Studium und Training Brechts an amerikanischen Theaterabteilungen gang und gäbe war, wenngleich oft mit grandiosen Missverständnissen oder dogmatischer Enge, macht sich heute eine post-postmoderne Beliebigkeit breit, in der Brecht offensichtlich nur stört (und ebenso wie Euripides, Calderon oder Shakespeare ignoriert werden kann). Eine Vielzahl von –ismen beherrscht den Ausbildungsmarkt, die alles andere als eine Erneuerung des Theatralischen und die Rückbesinnung auf die soziale und kommunikative Funktion des Theaters im Sinn haben. Dass die Theaterschule der Universität der Künste sich Brecht aussetzt und von den Studenten und dem Publikum dafür applaudiert wird, lässt auch für anderswo im Lande hoffen!
Erneut ist es Heinz-Uwe Haus gelungen, eine Bresche für Brecht zu schlagen, die eine besondere Präsenz hinterlassen wird, weil sie – anders als mit geformten und erfahrenen Ensembles – mitten in einen Trainingsprozess hinein zukünftigen Theaterkünstlern eine ideelle und professionelle Alternative aufzeigt, die bisherige Haltungen und anscheinend gesichert Gelerntes radikal infrage stellt.
Schlagwörter: Bertolt Brecht, Chris Rockwell, Der gute Mensch von Sezuan, Heinz-Uwe Haus, Philadelphia