von Reiner Oschmann
Das ist eine Veröffentlichung, wie man sie vielleicht nur in der von Hans Magnus Enzensberger 1984 begründeten Reihe „Die andere Bibliothek“ erwarten darf: Ein Buch (hier ein Doppelband), das besonders schön gestaltet, besonders sorgfältig betreut und auch inhaltlich besonders ist. Die Merkmale treffen alle zu auf den Zweiteiler „Das eingeschossige Amerika“. Der Titel spielt mit der Tatsache, dass ebenerdige Häuser die USA besser charakterisieren als Wolkenkratzer.
Verfasser Ilja Ilf (1897 – 1937) und Jewgeni Petrow (1903 – 1942) sind zwei Autoren der frühen Sowjetunion. Mit ihren satirischen Romanen „Zwölf Stühle“ und „Das goldene Kalb“ gehörten sie zu den meistgelesenen Autoren ihrer Zeit. Hier handelt es sich um den Bericht der Reise von Ilf und Petrow in einem kleinen Ford „von edlem Mausgrau“ durch die USA. Sie fand vom Oktober 1935 bis Januar 1936 statt, ging über 16.000 Kilometer von der Ost- an die Westküste und von dort über die Südstaaten nach New York. Es waren die Jahre nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, der ersten Präsidentschaft Roosevelts und eines Stalins, der sich im Namen des Kommunismus zu einer seiner mörderischsten „Säuberungen“ anschickte. Zudem war es die Zeit, in der USA und UdSSR erstmals volle diplomatische Beziehungen hatten. Von der begonnenen Nazi-Zeit und dem nahenden Zweiten Weltkrieg nicht zu reden.
Das Duo reiste im Auftrag der Chefredaktion des Zentralorgans „Prawda“ nach Amerika. Obwohl nach den Worten von Ehefrau Alexandra Ilf bis heute unbekannt ist, „mit welchen Instruktionen“ des Chefredakteurs die Korrespondenten reisten, sei sicher: „Was herauskam, war kein Auftragswerk.“
Das trifft nicht durchweg, aber doch in einem so erfreulichen Maße zu, wie das zu Zeiten der späteren Systemauseinandersetzung zwischen realem Sozialismus und alltäglichem Kapitalismus selten geschah. Das macht Ilf und Petrow mit diesen zwei Büchern und ihren Schwarz-Weiß-Fotos auch heute lesenswert. Wegen der vielen Spontan-Straßenbekanntschaften, des weiteren wegen der Gespräche mit großen Zeitgenossen – Henry Ford, Upton Sinclair oder Hemingway, dazu sprichwörtliche US-Institutionen wie die Autometropole Dearborn, das Mark-Twain-Städtchen Hannibal, SingSing samt elektrischem Stuhl, Grand Canyon, Hollywood oder Empire State Building. Interessanter jedoch als geografische und biografische Details ist für die heutige Lektüre der Vergleich USA-UdSSR, den Ilf und Petrow mehrfach ziehen und der mit dem Wissensvorteil über das Geschehen der vergangenen 75 Jahre entweder verblüfft oder erheitert. Verstärkt wird dieser Faktor durch die sowjetischen Leserbriefe, die dem Buch hintenan- und ein Geleitwort von Ilfs Ehefrau Alexandra, das dem Band vorangestellt wurde.
Die Vergleichsperspektive erinnert den Leser nicht nur daran, wie sich die USA seit der Reise verändert haben (oder nicht), sondern auch, welchen Weg die sowjetische Heimat seit der Stalinschen Hoch-Zeit nahm. Beispielsweise ergötzen sich die Besucher an der Güte amerikanischer Überlandstraßen, ein Schwelgen, das heute unwahrscheinlich wäre. Sie leiden an der Fadheit Hollywoods, die nur noch von der Lausigkeit der meisten Hollywood-Filme übertroffen wird. Sie beklagen die Misere der amerikanischen Küche, das Einerlei amerikanischer Kleinstädte und die Allgegenwart des Profitstrebens. Sie vermerken die Würdelosigkeit der Fließbandarbeit in Fords Werken, sind begeistert von der Hilfsbereitschaft, und sie singen wieder und wieder das Hohelied auf den Service in Amerika. Ilf und Petrow am Neujahrstag 1936 in San Antonio, Texas: „Das Land achtet und schätzt den Service. Und Service ist nicht nur die Fähigkeit, Handel zu treiben und daran zu verdienen. Wir wollen hier noch einmal betonen: Der Service ist diesem Volk in Fleisch und Blut übergegangen, er ist ein wesentlicher Zug des Nationalcharakters. Im Grunde geht es darum, wie jemand seine Arbeit tut.“ Im Gegenzug nimmt Ilfs Witwe Alexandra in ihrer Vorbemerkung das heutige Russland ins Visier: „Äußerlich gesehen, gibt sich unser Land alle Mühe, so zu werden wie Amerika: Thriller von Hollywood-Format, die allgegenwärtige Werbung und vieles andere auch hat bei uns Einzug gehalten. Was wir nach wie vor nicht haben, sind gute Straßen, ein funktionierender Service, exakte und pünktliche Arbeit, sowie vieles andere mehr.“
Mit Fortgang ihrer Reise betrachten Ilf und Petrow die USA gelegentlich mit der Gönnerhaftigkeit von Abgesandten eines Landes, das sich an der Fortschrittsspitze der Menschheit wähnt. Schriftstellerin Felicitas Hoppe, Kennerin der USA, schreibt in ihrem Vorwort, im Text wimmle es „von jenen kleinen Tributen, die die Reisenden ihrer Heimat zollen, als hätten sie Angst, es könne womöglich ein Zweifel daran aufkommen, dass es nirgends schöner sein kann als zu Hause, auch wenn zu Hause (man lese Ilf und Petrow, die gesammelten Werke) alles andere als schön ist. (Denn zu Hause in der Sowjetunion geht es längst um Leben und Tod.)“ Aber Hoppe bemerkt, dass diese Tribute „an keiner Stelle über die Faszination hinweg(täuschen)“, die das Gastland auf seine Besucher ausübt“.
Letzteres hat wohl auch mit der Seelenverwandtschaft der zwei Nationen zu tun. Schon oft wurde festgestellt: beiderseitige Großzügigkeit, Lautstärke und Erwartung, als Nummer Eins in der Welt gesehen zu werden. Ganz zu schweigen von der Schwäche, die reiche Russen seit dem Abgang des Kommunismus für allen amerikanischen Glanz entwickeln. Dieses Faible wird oft bis in den Kreml hinein so nachäffend gelebt, dass man sich wundert, wie wenig Bleibendes der kommunistische Versuch in der einstigen Sowjetunion hinterlassen hat.
Daran kann man auch denken, wenn unter den Leserbriefen zum Buch ein I.I. Melker aus „Leningrad 36, Prospekt des 25. Oktober 128, Wohnung 128“ seinerzeit schrieb: „Wenn Amerika sowjetisch wäre, dann wäre es das Paradies“, um den Autoren sogleich kritisch ins Stammbuch zu schreiben: „Negativ an dem Buch ist, dass seine Verfasser die Stimmung im Proletariat Amerikas, seine Stellung in der Gesellschaft, seinen Klassenkampf und den Einfluss der kommunistischen Partei nicht dargestellt haben.“ Kaum anders verhält es sich mit (glücklicherweise seltenem) sozialistischem Pathos von Ilf und Petrow. Etwa wenn sie gegen Ende der Tour ihre Gewissheit äußern, der einfache Amerikaner könne „den Patriotismus des sowjetischen Menschen nicht verstehen, der seine Heimat nicht als juristisches Gebilde liebt, das ihm seine Rechte als Staatsbürger gewährt, sondern als eine Heimat, die er spürt, wo ihm der Boden, die Fabriken, die Geschäfte, die Banken, die Kriegsschiffe, die Flugzeuge, die Theater und die Bücher gehören, wo er selbst Politik macht und Herr über all das ist.“ Dies sind Tribute an die Auftraggeber. Doch solche Reportage-Entgleisungen sind Ausnahmen, nicht die Regel. Insofern tragen selbst sie dazu bei, den Doppelband zu einem knisternden amerikanisch-sowjetischen Vergleich und einem anregenden Gesamterlebnis zu machen.
Ilja Ilf / Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika. Eine Reiseerzählung. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger, Eichborn, Frankfurt am Main 2011, 2 Bände, 693 Seiten, 65,- Euro
Schlagwörter: Eichborn, Felicitas Hoppe, Ilja Ilf, Jewgeni Petrow, Roosevelt, Stalin