von Holger Politt, Warschau
Wichtige Ereignisse finden in Polen häufig in der dunklen Jahreszeit statt. Die beiden großen Nationalaufstände im 19. Jahrhundert begannen im November und Januar. November war auch der Monat der politischen Wiederherstellung Polens im Jahre 1918. Und vor dreißig Jahren erklärte Wojciech Jaruzelski an einem 13. Dezember das Kriegsrecht, wie der Ausnahmezustand offiziell heißen musste, weil laut Verfassung nur ein solches als Möglichkeit offenblieb. Es herrschte kaltes Winterwetter, weshalb die Bilder der an Wärmfeuern sich aufhaltenden Soldaten durch die Welt gingen. Begründet wurde der martialische Ausnahmezustand mit dem wirtschaftlichen Kollaps, der dem Land in den harten Wintermonaten ohne das Eingreifen der Militärs gedroht hätte. Als zentrale politische Maßnahme wurde das Verbot und die Auflösung der Gewerkschaft „Solidarnosc“ verkündet. Wie immer in solchen Fällen, wurde eine möglichst schnelle Rückkehr zur Normalität in Aussicht gestellt.
Schnell ging die Kunde durch die noch sowjetisch dominierte östliche Hälfte Europas, dem Land an der Weichsel hätte ohne das Eingreifen seiner Militärs ein Versinken in der Anarchie gedroht, also ein Auflösen jeglicher Ordnungsrahmen, die für das gesellschaftliche Leben nun einmal notwendig seien. Indirekt wurde mit diesem Argument jedoch zugegeben, dass eine große Anzahl von Bürgern in Polen diesem Ordnungsrahmen überdrüssig geworden war. In Polen selbst wurde ein anderes Argument unterschwellig in den Vordergrund gerückt. Ja, dem Land hätte die Anarchie gedroht, was aber zwingend die Besetzung desselben durch die Truppen des Warschauer Vertrags nach sich gezogen hätte. Dem sei das eigene Militär zuvorgekommen, wodurch wahrscheinlich größeres Blutvergießen verhindert worden sei. Die Entwicklung, so wurde schnell versichert, werde in Bälde wieder voll in den Händen der polnischen Bürger liegen. Die vorgenommenen Einschränkungen der Bürgerrechte seien vorläufiger Natur.
Mit beiden Argumenten wurde auf den damaligen Kreml-Herrscher Leonid Breshnew verwiesen. Dessen außenpolitische Doktrin, wonach die Dinge im Innern der einzelnen sozialistischen Staaten auch Angelegenheiten der gesamten sogenannten sozialistischen Staatengemeinschaft seien, somit also unmittelbar die Interessen Moskaus berührten, war eine Handlungsvollmacht, die erstmals 1968 in der Tschechoslowakei ihre praktische Anwendung fand. Zwar war die Sowjetunion 1981 bereits tief politisch und militärisch in die afghanische Sackgasse geraten, aber erstens wollte das damals noch kaum jemand im Kreml wahrhaben und zweitens drohte mit Polen das gesamte Konstrukt der sowjetischen europäischen Nachkriegsordnung in seinen Grundlagen erschüttert zu werden. Dass es sich dabei um Arbeiterproteste handelte, war zweitrangig, fast nebensächlich. Entscheidend, verständlich bei einer richtigen Supermacht, waren alleine die geopolitischen Interessen.
Nachdem Breshnews Doktrin mit dem Machtantritt Michail Gorbatschows auf den Müll der Geschichte geworfen wurde, ergaben sich für die Seite, die das Kriegsrecht auf sich genommen hatte, neue Spielräume. In einem nun immer offener, also liberaler werdenden politischen Kräftemessen sollte sich gar entscheiden, welche gesellschaftliche Entwicklung das in eine tiefe und allumfassende gesellschaftliche Krise geraten Land künftig nehmen werde. Am Runden Tisch, der im Februar 1989 in Warschau begann, einigten sich die Kontrahenten auf die Durchführung von Parlamentswahlen, die den Verfassungsartikel der führenden Rolle für die Partei des Proletariats einfach links liegenließen. Die Wiederzulassung der Gewerkschaft „Solidarnosc“ ging dem voraus.
In dieser Zeit ließ Gorbatschow in Warschau und Budapest bereits anklingen, dass die Stationierung hunderttausender Sowjetsoldaten auf dem Gebiet der DDR künftig nicht zwingend etwas mit dem bestehenden Grenzregime an der Berliner Mauer zu tun haben müsse. Und in der DDR wurden Kommunalwahlen abgehalten, die dem Prinzip von Selbstvertretung auf den unteren Staatsebenen eher Hohn sprachen und zudem auch noch gefälscht wurden. Die DDR-Führung ging ins geschichtliche Aus, auch wenn der Vollzug dann noch einige Monate auf sich warten sollte.
Viele Jahre später ist das Ereignis vom 13. Dezember 1981 in Polen immer noch Gegenstand politischen Streits. Jaruzelski steht bei jenen am Pranger der Geschichte, die in diesem Akt der Verzweiflung die Momente des Machterhalts betonen. Noch immer suchen sie zu beweisen, dass die Behauptung, ohne das Kriegsrecht wären die Truppen des Warschauer Vertrags in das Land einmarschiert, ein vorgeschobener Grund sei. Sie verlangen nach Beweisen und schieben das schöne Argument nach, die Russen hätten damals durch das Afghanistan-Abenteuer ohnehin keine Möglichkeit für eine zweite militärische Besetzung gehabt. In der Folge gilt ihnen der am Runden Tisch ausgehandelte Kompromiss als Verrat, mit dem die alte Nomenklatura eine breite Brücke in die anbrechende Zeit der Freiheit hineinbauen konnte. Und den Vogel schoss nun wieder Jaroslaw Kaczynski ab, als er vor wenigen Tagen Polens Außenminister des Landesverrats bezichtigte, weil der sich angesichts der Euro-Krise für eine ernsthafte Vertiefung der EU-Integration aussprach. Und er stellte den Radoslaw Sikorski ganz ungeniert in den Schatten von Wojciech Jaruzelski.
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