von Heinz Jakubowski
Gewiss, es sind erst ganze zwei Bücher, die der großartige Josef Bierbichler veröffentlicht hat; das darf noch immer als ein eher schmales Œuvre gelten für einen Schriftsteller, zumal, wenn dieser die sechzig bereits klar überschritten hat. Aber wenn Josef Bierbichler – leider – überhaupt erst vor zehn Jahren zu schreiben begonnen, und dann gleich so Wunderbares wie erst „Verfluchtes Fleisch“(2001) und jetzt „Mittelreich“ hervorgebracht hat, darf man den Mimen Bierbichler, Josef allemal auf „seine Bücher“ beziehen. Zumal beiden Büchern, bei allen Unterschieden, ein Umstand gemein ist: Ohne als pure Reflexion der eigenen Vita daherzukommen, hat Bierbichler viel Autobiografisches in ihnen untergebracht und auch darüber hinaus viel von sich preisgegeben.
„Mittelreich“ ist ein wunderbares Buch, weil es auf eine faszinierend berührende und nachvollziehbare Weise die Geschichte einer Bauern- und Wirtsfamilie in den bayerischen Voralpen erzählt, ihr Dorf am See und die Menschen, die hier leben. Weil es die Gratwanderung scheinbar spielend bewältigt, Zeitzeugnis zu sein, ohne das Hautgout des Literarischen aufzugeben und ins rein Dokumentarische abzugleiten. Weil in den Figuren dergestalt viel Menschliches, Allzumenschliches daherkommt, wie man es kennt und wiedererkennt, selbst wenn man mit den Spezifika der bayrisch-katholischen CSU-Wähler wenig Berührung hat. Weil es wunderbar erzählt ist.
Nichts bleibt bei Bierbichlers Zeitgeschichte außen vor, was die seinerzeitige Welt – aus der die unsere erwachsen ist – mit sich gebracht hat an Veränderungen im Außen und Innen auch der kleinsten Welt, wie der zwischen München und den Alpen. Und selbst, wenn er sich, verschiedene literarische Stilmittel benutzend, zu kurzen Kommentierungen neuer Zeitabschnitte auf dem deutschen Weg zwischen 1914 und dem Ende der achtziger Jahre entschließt – es bleibt großartige Literatur, was Bierbichler macht. Es wird gekrönt durch sein Vermögen, zum Teil extrem unterschiedliche Stilmittel zu einer stimmigen und unbedingt einnehmenden, oft herzerwärmenden literarischen Melange zu verbinden. Bayrische – und sowieso Bierbichlerisch derbe und allemal auch böse – Poltrigkeit in der Sprache gehört dazu ebenso wie nahezu poetische Liebeserklärungen an die heimatliche Landschaft und ihre Menschen, auch die allgegenwärtig rigide Verweigerung von Aussöhnung mit geistiger Niedrigkeit und den daraus erwachsenen Ideologien.
„Mittelreich“ ist ein Buch, das einen gefangen nimmt, weil seine Schilderungen in eine Sprache gefasst sind, die dem Milieu adäquat ist und die tief zu berühren vermag, weil all das Zeit-Nachdenkliche Bestand hat. Denn wer die geschilderten Brüche in den Umständen der agierenden Menschen und in ihnen den Bezug auch auf Gegenwärtiges zu verinnerlichen vermag, der weiß einmal mehr: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Schon deshalb ist es wohlgetanes Literatenwerk, sich mit dem Gestern und Vorgestern zu befassen, immer wieder, aus der Vogelperspektive ebenso wie aus der des Frosches mit seinem scheinbar nur kleinen Gesichtsfeld.
„Mittelreich“ ist also ein wirkliches Panorama dessen, was Bierbichlers Zeitgenossen Zeit ihres Lebens an – allemal gravierenden – Veränderungen dieses ihres Lebens erfahren haben: Kriegsbegeisterung 1914, Mitläufertum (zumindest) bei den Nazis, Verdrängungswettbewerb nach den Nazis, Annäherung an die Demokratie, Entdeckung des Marktes und der Gewinnmöglichkeiten, Aufgabe der Heimat als Heimat zugunsten ihrer Vermarktung …
Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein Zeit- und Sittengemälde, das der Bayer hier ausbreitet. Und getragen ist es unübersehbar von der Liebe zum Menschen, wohl wissend, dass es sich nach wie vor um „die alte Eva“ und den „alten Adam“ und all deren Verwerfungen und Fährnisse handelt, mit denen man es zu tun hat. Und von denen man letztlich ja doch auch nur einer ist.
Josef Bierbichler: Mittelreich, Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 392 Seiten, 22,90 Euro
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