von Roger Willemsen
Der deutsche Fernsehalltag sieht heute so aus: Wenn zwei Männer mit ihren Penissen Klavier spielen, sitzt jeder vierte Zuschauer davor, obwohl es ihm in aller Regel nicht wirklich gefällt. Stattdessen sieht er mit Angstlust zu, mit geneigter Abwehr und Freude am Ekel. Pauschale Fernsehkritik ist die pauschale Selbstbestrafung des Publikums für die geliebte Verblödung.
Wir schauen Fernsehen, gewiss, aber noch eigentlicher schaut das Fernsehen uns. Wir sind es zwar, die glotzen, doch nennen wir das Gerät „Glotze“. Es ist ein perfides Medium, weiß es doch ganz genau, was wir, wie lange, von welchen Geschmacksverstärkern begleitet, sehen wollen. Auf der niedrigsten Stufe mentaler Bewegung stieren wir es an, bei lebendigem Leibe eingeschläfert.
Nein, sympathisch sind wir Glotzer nicht und würden uns nicht gerne zum Freund haben. Wir schauen mit Schadenfreude, herablassend, froh, nicht zu sein wie jene dort im Kasten, wir machen Bauer sucht Schwein zu einem Massenerfolg, wenn zwei Männer mit ihren Penissen Klavier spielen, sitzt jeder vierte Zuschauer davor. Doch sagt er: Das ist das Schönste, das ich je gesehen habe? Nein, er sieht mit Angstlust zu, mit geneigter Abwehr, Freude am Ekel. Meint die RTL-Chefin das, wenn sie sagt: „Wir nehmen unsere Zuschauer ernst?“ Sie spottet. Der Zuschauer nimmt sich ja selbst nicht ernst.
Gewiss, das Fernsehen macht dumm, aber zuerst seine Produzenten, und so dürfte es zwar schwerfallen, einen Moderator zu finden, der nicht klüger wäre als sein Programm, aber niemand wurde im Fernsehen je bestraft, der sein Publikum unterforderte.
Es ist nun mal ein kindliches Medium, das, wo immer möglich, auf Stereotypen zurückgreift, Abstraktionen vermeidet und Bilder gern begleitet, indem es sie rhetorisch verdoppelt. Diese Form der Herablassung heißt „Popularität“. Wer aber ist arrogant: der für höhere geistige Aktivität im Fernsehen votiert oder der sagt „das können wir dem Zuschauer nicht zumuten“?
Andererseits machen Simplifizierung und Vulgarisierung bekanntlich RTL zum Marktführer und nicht Arte, und öffentlich-rechtliches Fernsehen wirkt oft allenfalls schamhafter. Trotzdem steckt man auch da eine Million Euro Werbegelder in Heidi Klums Handtaschenträger Bruce Darnell und scheitert, setzt Dolly Buster in jede zweite Talkshow, auch wenn wohl kein Mensch in Deutschland sitzt und fragt: Was die wohl heute sagt?
Und während man zusehen kann, wie sich ehemals renommierte Interviewerinnen quotenhörig in die Würdelosigkeit moderieren, opfert man ein erwachsenes Fernsehen flächendeckend der Unterhaltung und scheitert eben da. Das aber ist das Skandalon: Wenn man mit Gebührengeld weniger Erfolg hat, wo es um Nachrichten oder Kultur geht, ist dies Scheitern im Sinne des Rundfunkstaatsvertrages. Scheitert man dagegen in der Unterhaltung, verschwendet man Gebührengelder – z.B. Millionen für den nächsten Gottschalk – und hat diesen Misserfolg nicht mal mit etwas Sinnvollem errungen.
Der Traum des Fernsehens als einer Volksbildungsanstalt im aufgeklärten Sinn ist längst ausgeträumt. Im Namen der Massenkultur hat es den Massen seine Interessen abgekauft wie das an einer besseren Orientierung in der Welt, an der Selbstreflexion der Gesellschaft, der Kommunikation, der Wahrnehmung – lauter wichtige Dinge selbst im Sinne der Integration, der sozialen Ethik.
Grotesk wirkt das Fernsehen, misst man es am Traum von seinen Möglichkeiten. Das richtet den Traum, meinen die Macher, nicht das Medium.
Deshalb finden die wichtigsten Dinge heute nicht mehr in der Fernsehöffentlichkeit statt. Eine gute Einschaltquote verdankt sich eben selten der Zustimmung, öfter der Konträrfaszination. Das Publikum honoriert die schlichtesten Programme und bestraft die ambitionierten.
Dass es sich dabei selbst nicht mag, kompensiert es in pauschaler Fernsehkritik, der Selbstbestrafung, dem rhetorischen Widerstand gegen die geliebte Verblödung. Das Fernsehen andererseits ist zur Selbstkritik nicht in der Lage. Die „Mainzer Tage der Fernsehkritik“ wurden gerade ausgesetzt und das einzige, ehemals medienkritische Magazin Zapp hat sich jüngst zur braven Programmbegleitung umgemendelt. Doch bräuchte man ja keine Kritik, man müsste nur einfach mal die Kameras umdrehen, Redaktionskonferenzen filmen und würde so erfahren, warum man vielleicht die Welt verbessern kann, aber nicht das Fernsehprogramm.
Roger Willemsen, ehemals TV-Moderator und Produzent, kündigte im Jahre 2002 alle seine Fernsehverträge.
Beitrag mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag entnommen der „Süddeutschen Zeitung“vom 15. 10. 2011.
Schlagwörter: Fernsehen, Fernsehkritik, Roger Willemsen, Rundfunkstaatsvertrag