14. Jahrgang | Nummer 23 | 14. November 2011

Zu Fuß durch Teltow-Fläming (III)

von Erhard Weinholz

Der dritte Tag meiner Teltow-Fläming-Wanderung beginnt so, wie ein Tag im Hotel immer beginnen sollte, es aber nur selten tut: mit einem erstklassigen Frühstücksbuffet. Dann ist einiges für den Imbiss unterwegs zu besorgen; zur nächsten Kaufhalle sind es nur wenige Minuten. Jene kleinen Läden, wie man sie in Berlin an jeder Ecke findet, fehlen in Luckenwalde anscheinend völlig. Auch als Spätverkaufsstelle hätten sie keine Chance: Auf dem zentralen Boulevard, der Breiten Straße, war am Abend gegen neun etwa so viel los wie bei uns im Bötzowviertel nachts um halb drei. Selbst hier, wo sich Laden an Laden reiht, sind da und dort die oberen Etagen unbewohnt. Zuvor war ich eine Weile im Westteil der Altstadt herumgewandert, durch Straßen, wie sie einem manchmal in schlechten Träumen erscheinen: menschenleer und baumlos. Nicht wenige der alten Häuser sind rekonstruiert, viele aber unbewohnt, von manchen ist nur die Fassade geblieben. Dazwischen immer wieder Abrissbrachen. Jetzt, am Morgen, in der Gegenrichtung unterwegs, bietet sich der gleiche Anblick. Nur die Bauten der fünfziger bis achtziger Jahre und des ganz neuen Viertels hinter meinem Hotel hat der Leerstand weitgehend verschont. Natürlich begann der Verfall schon lange vor 1989, und um manche der ollen Kabusen ist es wahrlich nicht schade, dennoch: Das Gesamtbild ist deprimierender als zu DDR-Zeiten – so ein von mir befragter Einwohner – und eine Lösung nicht in Sicht. Vielleicht sollten sich ostdeutsche Städte der Art, Luckenwalde ist ja kein Einzelfall, ein Einheitswappen zulegen: quer geteiltes Schild, unten eine heruntergelassene Jalousie, darüber drei tote Fabrikschornsteine.
Im Hotel betrachte ich noch einmal die Karte. Drei Wege führen nach Kloster Zinna, dem letzten meiner Wanderziele: Als erstes die B 101 – kommt nicht in Frage. Als zweites die asphaltierte Fläming-Skate-Piste, aber das wäre mir zu einfach. Den dritten Weg, durch Wälder und Felder auf der anderen Seite der Bahnlinie nach Jüterbog, müsste ich mir selber suchen. Und den werde ich nehmen. Zwar ist am Stadtrand eine größere Baustelle verzeichnet, die Ortsumgehung der B 101, doch das dürfte kein Problem sein. Dahinter kommt eine etwas sonderbare Gegend: Ödland, von vielen Wegen durchzogen. Muss ich aufpassen, dass ich mich nicht zu weit von der Bahnstrecke entferne. Sonderbar zudem, dass es da einen namenlosen Bahnhof gibt. Na egal, Rucksack geschultert und los.
Die Baustelle kündigt sich schon von weitem durch Sandberge und „Betreten verboten“-Schilder an; gebaut wird genau dort, wo ich entlang will. Längere Zeit muss ich mich durch Unterholz und Gestrüpp zwängen; zum Glück wandere ich heute mit leichtem Gepäck – eine Nacht will ich noch im Luxus verbringen. Kaum ist die erste Hürde genommen, stoße ich auf ein weiteres Schild, das mich lange begleiten wird: „Naturschutzgebiet. Ehemals militärisch genutztes Gelände“. Das hat mir die Karte leider verschwiegen. Wandern darf ich von nun ab nur auf ausgeschilderten Wegen – aber führen die nach Kloster Zinna? Für eine Umkehr ist es zu spät; legal, illegal, scheißegal: Am nächsten Abzweig biege ich nach links. Das sandige Gelände, in das ich alsbald gerate, war das einmal ein Panzerübungsplatz? Und war auf dem Schild nicht von Blindgängern die Rede? Aber hier war schon einmal jemand unterwegs, und so wandele ich eine größere Strecke in den Spuren meines Vorgängers. Ein zernarbtes, flaches Stück Eisen, vielleicht vom Sprengkopf einer Granate stammend, stecke ich als Andenken ein. Erst nach geraumer Zeit finde ich einen passablen Weg entlang der Gleise. Der namenlose Bahnhof, Endpunkt der Transporte, die von weit her aus dem Osten kamen, erweist sich als verrottete Rampe. Ansonsten ist nichts mehr von der einstigen Nutzung zu sehen, das Autowrack, das in einer Senke unter Bäumen vor sich hin rostet, ist wohl neueren Datums.
Manches Hindernis muss ich noch überwinden in dem stillen, einsamen Forst, aber irgendwann am frühen Nachmittag liegt ein weiter Acker vor mir, und hinter dem Bahndamm zur Linken erscheint der Kirchturm von Grüna. Da ist Kloster Zinna nicht weit. Wie ich mich am Waldesrand entlang mühe, entdecke ich zwischen Laub und Gras etwas Orangenes, fest wie ein Steinpilz: eine junge Rotkappe, Boletus aurantiacus, seit Kindheitstagen nicht mehr gefunden und laut Bruno Hennigs „Taschenbuch für Pilzfreunde“ ein „ausgezeichneter und sehr ergiebiger Speisepilz“. Ein Stück weiter eine zweite, daneben eine dritte, und da die Natur hier schon ungeschützt ist, sammle ich ein gutes Dutzend davon ein – bis morgen Abend werden sie sich halten, denke ich, und das tun sie auch. Querfeldein laufe ich nun einer Bahnunterführung zu, und dort gewinne ich endlich wieder zivilisierten Grund unter den Füßen. Es lebe der Asphalt, es lebe das Laster!
Kloster Zinna, 1170 gegründet, gehörte lange Zeit zum Erzbistum Magdeburg. Von den einstigen Anlagen sind nur Reste geblieben, die Kirche, die wie alle Zisterzienserkirchen recht schmucklos ist und in der ich mich eine Weile umschaue, sowie vier kleinere Bauten. Doch das Klostermuseum interessiert mich nicht sonderlich und den nebenan produzierten „Zinnaer Klosterbruder“ mag ich nicht verkosten – wieder einmal war der Weg wichtiger als das Ziel. Bei Kaffee und Kuchen aus dem kleinen Laden nahe bei der Haltestelle warte ich auf den Bus nach Luckenwalde, betrachte das Kriegerdenkmal mit seiner verlogenen Inschrift und versuche, die Geschehnisse des Tages in Sätze zu fassen.
Am nächsten Morgen, gut gesättigt, starte ich früh. Zwar hätte ich zuletzt gern erfahren, wie man im Heimatmuseum an Rudi Dutschke erinnert, Luckenwaldes größten Sohn, aber bis zehn will ich nicht ausharren. Am Bahnhof eine  Fahrkarte zu kaufen erweist sich als unmöglich, es gibt weder Schalter noch Automaten. Es gibt auch keinen Zeitungskiosk, keinen Backwarenladen, aber immerhin einen Bahnsteig, der sogar überdacht ist – sozusagen Bahnhof pur. Und der Zug ist pünktlich.
Tags darauf treffe ich in der S-Bahn einen alten Freund, den ich aus Friedenskreis-Zeiten kenne, auf dem Weg zur Arbeit, zur SPD-Zentrale. Die Misere der Städte im Osten ist ihm wohlbekannt, Ost-Probleme sind sein Spezialgebiet. Doch selbst seine Parteifreunde aus den betroffenen Ländern, sagt er mir, wollten davon nichts mehr hören. Sie brauchen Erfolgsmeldungen.