von Frank Ufen
Was würden Sie tun, wenn Sie unmittelbar vor Beginn eines Konzerts Ihre Eintrittskarte nicht finden könnten, für die Sie vor einer Woche 50 Euro hingeblättert hatten? Würden Sie sich eine neue Karte kaufen, wenn es noch genug freie Plätze gäbe und Sie sich genug Geld eingesteckt hätten? Als die Sozialpsychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky Versuchspersonen mit einer derartigen Frage konfrontierten, antworteten 46 Prozent von ihnen prompt mit einem entschiedenen „Nein“.
Und was würden Sie machen, wenn Sie die Karte erst an der Abendkasse kaufen wollten und dort feststellen müssten, dass Sie die dafür vorgesehenen 50 Euro unterwegs irgendwo verloren hätten? Dieses Mal erklärten 88 Prozent der Befragten, dass sie in einer solchen Situation nicht zögern würden, für das Ticket trotzdem weitere 50 Euro zu opfern.
Menschen haben die merkwürdige Neigung, Geld danach zu unterscheiden, aus welcher Quelle es stammt und wofür es ausgegeben werden soll. Für jede dieser verschiedenen Geldsorten gibt es im Kopf ein eigenes Konto. Das zeigt sich auch hier. Zwar hat man in beiden Szenarien exakt die gleiche Summe eingebüßt. Doch im ersten Fall schreckt man vor dem Kauf einer weiteren Karte zurück, weil man das unangenehme Gefühl hat, etwas, das einem schon gehört, noch einmal bezahlen zu müssen. Hingegen glaubt man im zweiten Fall, es mit zwei voneinander unabhängigen Ereignissen zu tun zu haben, und verbucht deswegen die Ausgabe für die Konzertkarte auf einem anderen Konto als das Geld, dessen Verlust man sich selbst zuzuschreiben hat.
Kahneman und Tversky haben eine neue Theorie begründet: die „Verhaltensökonomie“. Ihr Dreh- und Angelpunkt ist die Einsicht, dass es in der ökonomischen Alltagspraxis längst nicht so rational zugeht, wie die klassische Wirtschaftswissenschaft unterstellt. In den Augen von Ellen und Michael Kaplan gibt es für diese Befunde der Verhaltensökonomie eine schlüssige Erklärung: Den Menschen der Gegenwart unterlaufen in etlichen Bereichen ständig Fehler, weil ihr Denken und Handeln von neuronalen Schaltkreisen gesteuert wird, die noch aus der Steinzeit stammen.
In den Vereinigten Staaten ist die tägliche Kalorienzufuhr allein zwischen 1985 und 2000 um 300 Kilokalorien gestiegen, und mittlerweile gelten zwei Drittel aller erwachsenen Amerikaner als übergewichtig. Schuld daran ist laut den Kaplans der mächtige Drang, sich den Bauch vollzuschlagen. Dieser unbeherrschbare Drang sei das Erbe der steinzeitlichen Vorfahren, die sich ihre Nahrung nur um den Preis extremer Anstrengungen und Risiken beschaffen konnten und immer wieder Hunger litten.
Doch ein Umstand ist merkwürdig. Die Franzosen schaffen es, schlank zu bleiben, obwohl die dreimal so viel Schweinefleisch und Butter und fast doppelt so viel Käse vertilgen wie die Amerikaner. Ellen und Michael Kaplan glauben allerdings, dieser Sache auf den Grund gekommen zu sein: Die Franzosen würden das genüssliche Essen nach allen Regeln der Kunst zelebrieren und es in ein Fest der fünf Sinne verwandeln – und deswegen hätten diese hoch raffinierten Mahlzeiten viel gemeinsam mit den Gelagen, die in der Steinzeit gelegentlich veranstaltet wurden.
Geleitet von ihrer Hypothese, dass der Mensch mit einem archaischen Gehirn ausgerüstet ist, das auf die Anforderungen eines Wildbeuter-Lebens zugeschnitten ist, befassen sich die Mathematikerin Ellen Kaplan und ihr Sohn Michael, der als freier Autor tätig ist, mit einer ungeheuren Vielfalt von Phänomenen – von optischen Täuschungen und falschen Erinnerungen angefangen bis hin zu Fremdenhass, dem Heiratsmarkt, der „Tragödie der Allmende“ oder dem Verhältnis von Moral und Macht. Mitunter wird es allerdings verwirrend, denn die Kaplans denken nicht immer konsequent. Beispielsweise behaupten sie, dass bis vor Einführung von Ackerbau und Viehzucht die Erziehung des Nachwuchses eine kollektive Angelegenheit gewesen sei. Doch seitdem sei der Ort, wo die Kindererziehung stattfinde, auf die Kernfamilie zusammengeschrumpft – mit der zwangsläufigen Folge, dass heute immer mehr Kinder unter psychischen Störungen leiden würden.
Es ist außerdem nicht ganz klar, was die Kaplans meinen, wenn sie sagen, dass die Diskrepanz zwischen Steinzeit-Gehirn und moderner Zivilisation durch die „wunderbare Macht der Kultur“ überwunden werden könne. Trotzdem: Es lohnt sich allein schon deswegen, dieses Buch zu lesen, weil die Kaplans mit einer Fülle aufschlussreicher und verblüffender Erkenntnisse aus einer ganzen Reihe von Disziplinen aufwarten. Eine aufregende Lektüre.
Michael Kaplan/Ellen Kaplan: Auf Fehler programmiert. Warum der Mensch irren muss. Rowohlt, Reinbek 2011. 397 Seiten, 19,95 Euro
Schlagwörter: Ellen Kaplan, Frank Ufen, Micheal Kaplan, Verhaltensökonomie