von Uri Avnery, Tel Aviv
Mehr als eine Woche war ganz Israel wie in einem Rausch. Gilad Shalit beherrschte das Land. Seine Fotos klebten an allen Wänden im Lande, wie die des Genossen Kim in Nord-Korea. Es war einer jener seltenen Momente, in denen Israelis auf sich selbst stolz sein können. Wenige Länder – wenn überhaupt eines – würden bereit gewesen sein 1.027 Gefangene gegen einen auszutauschen. In den meisten Ländern, einschließlich der USA, würde es politisch für einen Führer unmöglich gewesen sein, solch eine Entscheidung zu treffen.
Unmittelbar nach dem Oslo-Abkommen hatte Gush Shalom, die Friedensbewegung, zu der ich gehöre, vorgeschlagen, sofort alle palästinensischen Gefangenen frei zu lassen. Sie sind Kriegsgefangene, sagten wir, und wenn der Kampf zu Ende ist, sollten Kriegsgefangene nach Hause gelassen werden. Dies würde eine mächtige humane Botschaft des Friedens in jede palästinensische Stadt und in jedes Dorf übermitteln. Wir organisierten eine gemeinsame Demonstration mit dem verstorbenen arabischen Jerusalemer Führer Feisal Husseini vor dem Jeneid-Gefängnis nahe Nablus. Mehr als zehntausend Palästinenser und Israelis nahmen daran teil.
Aber Israel hat diese palästinensischen Gefangenen nie als Kriegsgefangene anerkannt. Sie wurden als gemeine Kriminelle, nur noch schlimmer, angesehen. Die in dieser Woche entlassenen Gefangenen wurden nie als „palästinensische Kämpfer“ erwähnt oder als „Militante“ oder nur als „Palästinenser“. Jede einzelne Zeitung und jedes Fernsehprogramm, von der elitären Haaretz bis zur primitivsten Boulevardpresse erwähnten sie ausschließlich als „Mörder“ und sicherheitshalber als „gemeine Mörder“.
Einer der schlimmsten Tyrannen auf Erden ist die Tyrannei der Worte. Wenn einmal ein Wort sich festsetzt, lenkt es Gedanken und Taten. In der Bibel heißt es : „Tod und Leben stehen in der Zunge Gewalt.“ Alle diese Gefangenen haben nach israelischer Sichtweise „Blut an ihren Händen“. Aber wer von uns Israelis hat kein Blut an seinen Händen? Gewiss, eine junge Soldatin, die von weitem eine Drohne dirigiert, die einen palästinensischen Verdächtigen und seine ganze Familie tötet, hat kein klebriges Blut an ihren Händen. Auch ein Pilot nicht, der eine Bombe in ein Wohngebiet fallen lässt und „nur ein leichtes Zittern des Flügels spürt“, wie ein früherer Stabschef es ausdrückte. (Ein Palästinenser sagte einmal zu mir: „Gib mir einen Panzer oder ein Kampfflugzeug, und ich werde den Terrorismus sofort aufgeben.“)
Das Hauptargument gegen den Austausch war der, dass nach Statistiken des Nachrichtendienstes 15 Prozent der bei solchem Austausch entlassenen Gefangenen wieder aktive Terroristen werden. Vielleicht. Aber die Mehrheit von ihnen werden aktive Unterstützer des Friedens. Praktisch alle meine palästinensischen Freunde sind frühere Gefangene, einige von ihnen waren zwölf Jahre oder länger im Gefängnis. Sie haben hebräisch im Gefängnis gelernt, durch das Fernsehen israelisches Leben kennen gelernt und einige Aspekte des israelischen Lebens sogar bewundert, wie zum Beispiel unsere parlamentarische Demokratie. Die meisten Gefangenen wollten nur nach Hause gehen, sich niederlassen und eine Familie gründen.
Aber während der endlosen Stunden des Wartens auf Gilads Rückkehr zeigten alle TV-Stationen blutige Szenen, in denen die Gefangenen, die entlassen werden, involviert waren, wie die der jungen Frau, die einen Selbstmordattentäter zu seinem Bestimmungsort fuhr. Es war eine unendliche Hasstirade. Unsere warme Bewunderung für unsere eigene Tugend wurde mit dem kalten Gefühl vermischt, dass wir wieder die Opfer sind, die gezwungen werden, gemeine Mörder zu entlassen, die wieder versuchen werden, uns zu töten.
Doch all diese Gefangenen sind leidenschaftlich davon überzeugt, dass sie ihrem Volk in seinem Freiheitskampf gedient haben. Die Israelis, wahrscheinlich wie die meisten Völker, sind ziemlich unfähig, in die Schuhe ihrer Feinde zu schlüpfen. Das macht es praktisch unmöglich, eine intelligente Politik zu führen – besonders, was dieses Problem betrifft.
Wie wurde nun Benjamin Netanjahu dazu gebracht, nachzugeben?
Der Held der Kampagne ist Noam Shalit, der Vater. Eine introvertierte Person, die zurückgezogen lebt und die Öffentlichkeit scheut. Er kam heraus und kämpfte jeden einzelnen Tag während dieser fünf Jahre und vier Monate. Dasselbe tat auch die Mutter. Sie retteten so buchstäblich Shalits Leben. Es gelang ihnen, eine Massenbewegung auf die Beine zu bringen, wie es sie vorher in den Annalen des Staates nie gegeben hat.
Dazu beigetragen hat, dass Gilad wie jedermanns Sohn aussieht. Er ist ein scheuer junger Mann mit einem gewinnenden Lächeln. Wenn unser Nachrichtendienst ihn ausfindig gemacht hätte, hätte er sicherlich versucht, Shalit mit Gewalt zu befreien. Wie so oft in der Vergangenheit, hätte das sein Todesurteil sein können. Die Tatsache, dass man ihn nicht finden konnte, trotz der Hunderten von Agenten im Gazastreifen, ist ein bemerkenswerter Erfolg von Hamas und erklärt, warum Shalit in so strikter Isolierung gehalten wurde.
Die Israelis waren erleichtert, zu entdecken, dass er bei seiner Entlassung in guter Verfassung war, gesund und munter. Von dem Augenblick an, an dem er seinen Fuß auf israelischen Boden setzte, hörte man aber kein einziges Wort mehr von ihm darüber, wie er behandelt worden war. Anscheinend war es ihm nicht erlaubt. Wo wurde er gehalten? Wie war seine Ernährung? Haben die Gefängniswärter mit ihm gesprochen? Was dachte er über sie? Lernte er Arabisch? Bis jetzt kam kein einziges Wort darüber, wahrscheinlich, weil dies so einiges positive Licht auf die Hamas werfen könnte.
Ausländische Korrespondenten fragten mich in dieser Woche wiederholt, ob der Gefangenenaustausch den Tür zu einem neuen Friedensprozess geöffnet hat. So weit es die öffentliche Stimmung betrifft, ist eher das Gegenteil der Fall. Sie fragten mich auch, ob Benjamin Netanjahu nicht von der Tatsache beunruhigt sei, dass der Austausch die Hamas stärkt und für Mahmoud Abbas ein schmerzlicher Schlag ist. Sie waren über meine Antwort verblüfft: das war einer seiner Hauptgründe, wenn nicht gar der Hauptgrund. Der Hauptschlag war ein Schlag gegen Abbas.
Abbas Schritte in der UN haben unsere rechte Regierung beunruhigt. Selbst wenn das einzige praktische Ergebnis sein würde, dass die Vollversammlung den Staat Palästina als einen Beobachter anerkennt, würde dies ein großer Schritt in Richtung palästinensischer Staat sein.
Diese Regierung ist wie all unsere Regierungen seit der Gründung Israels auf Biegen und Brechen gegen einen palästinensischen Staat. Er würde dem Traum von Groß-Israel bis zum Jordan ein Ende setzen und uns zwingen, einen großen Teil des Landes, das uns Gott versprochen hat, zurückzugeben und eine Menge Siedlungen zu evakuieren.
Für Netanjahu und Co ist das eine wirkliche Gefahr. Hamas stellt keine Gefahr dar. Was kann sie tun? Ein paar Raketen abfeuern, ein paar Leute töten – na und? In keinem Jahr hat Terrorismus auch nur halb so viele Menschen getötet, wie in unserm Straßenverkehr umkamen. Damit kann Israel also umgehen. Das Hamasregime würde wahrscheinlich nicht über den Gazastreifen herrschen, wenn Israel ihn nicht von der West Bank abgeschnitten hätte, im Gegensatz zu Israels feierlicher Zusicherung in Oslo, vier sichere Passagen zu schaffen. Keine wurde jemals eröffnet. Dies erklärt übrigens auch den Zeitpunkt. Netanjahu stimmte dem Austausch zu wegen Abbas, dem „gerupften Hähnchen“, das sich plötzlich in einen Adler verwandelt hat.
Am Tag des Austausches hielt Abbas eine nicht sehr beeindruckende Rede. Für den durchschnittlichen Palästinenser war der Fall einfach. Abbas hat in letzter Zeit mit all seinen israelischen und amerikanischen Freunden keinen einzigen Gefangenen frei bekommen. Hamas, die Gewalt benützte, hat mehr als tausend Gefangene frei bekommen, einschließlich Fatahmitglieder. Also: „Israel versteht nur die Sprache der Gewalt.“
Die große Mehrheit der Israelis unterstützt den Handel, auch wenn sie davon überzeugt ist, dass die „gemeinen Mörder“ uns wieder zu töten versuchen werden. Nie waren die Trennungslinien so klar wie dieses Mal. Etwa 25 Prozent waren dagegen. Dies schließt all die extremen Rechten ein, alle Siedler und fast alle National-Religiösen. All die anderen – das große Lager des Zentrums und der Linken, der Säkularen, Liberalen und moderat Religiösen unterstützten den Austausch. Dies ist der israelische Mainstream, auf dem die Hoffnung der Zukunft ruht. Wenn Netanjahu den Palästinensern in dieser Woche ein Friedensabkommen vorgeschlagen hätte, und wenn er von den Chefs der Armee, des Mossad und den Shin Bet unterstützt worden wäre, würde ihn dieselbe Mehrheit unterstützt haben.
Was die Gefangenen betrifft – weitere 4000 werden noch in Israels Gefängnissen fest gehalten – und diese Zahl wird wieder wachsen. Die Gegner des Handels haben ziemlich recht, wenn sie sagen, dass er den palästinensischen Organisationen einen starken Anreiz gibt, ihre Bemühungen anzuspornen, wieder einen israelischen Soldaten zu fangen, damit mehr Gefangene entlassen werden.
Wie vereitelt man die Bemühungen, mehr Soldaten zu fangen? Da gibt es nur eine Alternative: den glaubwürdigen Weg zu öffnen, sie durch ein Abkommen zu entlassen.
Wie zum Beispiel durch Frieden, falls man mir den Ausdruck entschuldigt.
Aus dem Englischen übertragen von Ellen Rohlfs
Schlagwörter: Fatah, Gilad Shalit, Hamas, Israel, Palästina, Uri Avnery