von Gisela Reller
Ich habe zur Tschernobyl-Problematik einige Bücher gelesen, aber keines hat mich so nachhaltig beunruhigt wie „Ich war im Sarkophag von Tschernobyl“ von dem Russen Anatoly N. Tkachuk.
Tkachuk, geboren 1950 im fernöstlichen Wladiwostok, arbeitete von 1972 bis 1998 auf verschiedenen operativen und leitenden Posten beim KGB; seine Dienstzeit beendete er im Rang eines Generalmajors. In Tschernobyl war Tkachuk verantwortlich für die Militärspionageabwehr des KGB, also auch für den Schutz der 600.000 Liquidatoren und aller anderen Personen, die in Tschernobyl ihr Leben „für das Überleben der Menschheit“ einsetzten. Anatoly N. Tkachuk („Mehr als zwanzig Jahre habe ich dieses Buch in mir herumgetragen.“) erzählt von Erschütterndem. Einer seiner Gedanken will mir überhaupt nicht mehr aus dem Kopf gehen – doch davon später.
Zum Schutz vor der nuklearen Strahlung nach der Explosion des Reaktorblocks 4 wurde ein Sarkophag gebaut – eine Schutzhülle, die Tkachuk als „ingenieurtechnische Meisterleistung“ bezeichnet. „Unter diesem Monster aus Beton, Stahl und Menschenleben entwickeln sich Dinge, die den Wissenschaftlern neu sind. Die Physiker [befürchten], dass unkontrollierte spontane Kettenreaktionen im übrig gebliebenen Nuklearbrennstoff Jahre dauern und mit jedem Element, mit jeder Substanz interreagieren können, um dabei Prozesse zu erzeugen, die die Menschheit noch nicht gesehen hat.“ Um diese permanente Gefahr besser einschätzen zu können, wurden Proben aus dem verstrahlten Sarkophag benötigt. Tkachuk ging zusammen mit drei Männern – einem Bauingenieur, einem Atomphysiker und einem General – in den Sarkophag von Tschernobyl. Ein Höllentrip.
Der Weg der vier Männer, die als erste Menschen in den hoch verstrahlten Sarkophag gingen, liest sich, obwohl mit Tatsachen vollgepackt, wie ein Kriminalroman. „ Die schwere Metallplatte wurde hinter ihnen mit einem unangenehmen Knall geschlossen. Die Männer waren umgeben von völliger Dunkelheit. […] Schneller! Die Zahlen auf dem winzigen Bildschirm wuchsen jede Sekunde: 40 Röntgen pro Stunde, 50,90,100,120 […] Alles voll Staub, das Dosimeter zeigt 700 Röntgen/Stunde und steigt ständig. […] Das Gebäude, von dem die Konstrukteure angenommen hatten, dass es einer atomaren Explosion standhalten würde, bot nun den Eindruck eines von Windstößen zerschlagenen Kartenhauses. […] Plötzlich blieb Ingenieur Lozov stehen. Dieser mittelgroße durchtrainierte Mann griff wild um sich, fiel auf die Knie, riss sich die Gasmaske vom Kopf, sog tief die Luft ein. Seine Lippen verfärbten sich in Sekunden blau, Schaum trat aus seinem Mund, vermischte sich mit dem Staub, und sein Gesicht wurde schwarz. Lozov machte noch ein paar tiefe Atemzüge und erlosch. […] Die feste Stimme von General Yudenkov [erlaubte] keinen Weg zurück.“ Der Bauingenieur Lozov war versehentlich auf den geschmolzenen Kernbrennstoff getreten, er starb zehn Minuten nach Betreten des Sarkophags. Der Atomphysiker berührte die strahlende Masse mit den Händen und starb zwei Tage später in einer Spezialklinik in Kiew. Der Militärkommandant überlebte die Expedition in die Strahlenhölle fünf Jahre. Der einzige der vier mutigen Männer, der den Höllentrip bis heute überlebt hat, ist Tkachuk. Spurlos vorübergegangen war „die gewagteste Expedition der Menschheit“ auch an dem KGB-Mann nicht. Er musste sich einer Operation am Hals unterziehen, und er hatte einen dunkelbraunen Strahlungsbrand auf der Haut.
Das Buch von Anatoly N. Tkachuk ist ein faktenreiches Sachbuch mit romanhaften Zügen. Der Autor schreibt seinen „Bericht des Überlebenden“ in der dritten Person, seinen Helden nennt er Andrey Pravdin. Das Meiste in diesem Buch ist autobiographisch und erzählt von den realen Geschehnissen jener Tage. Wer es lese, schreibt der Autor in seinem Vorwort, solle nachdenken, welches Schicksal unsere Erde erwartet. Sie, die Erde, sei zur Geisel der Menschheit und ihrer technischen Entwicklung geworden. „Wenn ich die Parallele zwischen der friedlichen Nutzung der Kernenergie und den Nuklearwaffen ziehe, möchte ich den Leser darauf hinweisen, dass beide gefährlich sind und uns sowie künftige Generationen bedrohen. […] Ich hatte sowohl mit der nuklearen Aufrüstung als auch mit der friedlichen Kernenergienutzung zu tun, die außer Kontrolle geraten ist. […] Wenn ich von Gefahren spreche, weiß ich genau, wie realistisch und gefährlich sie sind. Unmittelbar vor Drucklegung dieses Buches hat sich in Japan die Tragödie von Tschernobyl wiederholt, hat sich wieder einmal die Überlegenheit der Natur über die menschlichen Technologien bestätigt.“
Die Namen im Buch sind verändert. „Veränderung ist nicht Erfindung“ – lässt uns der Autor wissen. Unser Buchheld Andrey Pavlik hat einen Gegenpart: den Amerikaner Robert Lenz: „Möglicherweise CIA-Angehöriger. Mehrmals im Zusammenhang mit Raketentests aufgefallen, aber auch bei Bau und Betrieb von Atomkraftwerken.“ Andrey Pavlik begegnet Robert Lenz das erste Mal in einer ausländischen Touristengruppe … Zu Beginn dieser Rezension sprach ich von einem Gedanken Tkachuks, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Es sind dies seine Auslassungen über eine psychotronische Waffe im Zusammenhang mit der Explosion des Tschernobyler Reaktorblocks. Tkachuk spricht davon, dass es wenige Sekunden vor der Explosion ein unterirdisches Erdbeben gegeben habe, eventuell ausgelöst durch eine Waffe unbekannter Herkunft. Mehrere Augenzeugen hatten über Schwächezustände geklagt, und zwar in den zehn Minuten vor der Explosion. „Die psychotronische Waffe ist schon jetzt kein Märchen. […] Einstein hatte recht, als er sagte, niemand wüsste, mit welcher Bewaffnung der Dritte Weltkrieg geführt würde, aber die Waffen des Vierten wären Stöcke und Steine.“
Eine thermische Explosion aufgrund der fahrlässigen Handlungsweise des Personals – das ist die offizielle Version, die die Öffentlichkeit kennt. Im Buch „Ich war im Sarkophag von Tschernobyl“ treffen sich die beiden ehemaligen Geheimdienst-Kontrahenten Tkachuk/Lenz zufällig bei einem Gesundheitsbad in den berühmten thermischen Quellen von Sardinien. Im Verlaufe des Gesprächs bittet der Russe Tkachuk den Amerikaner Lenz ihm eine Frage zu beantworten, die ihn seit langer Zeit quäle: „Unter den Atomwissenschaftlern in Tschernobyl gab es Gerüchte, dass eine neuartige Waffe gegen das Kraftwerk eingesetzt worden sei, die ein Mikroerdbeben und die folgende Explosion ausgelöst haben soll. Irgendwie ist diese Version nie weiter untersucht worden. […] Habt Ihr diesen entsetzlichen Alptraum geschaffen?“ Statt einer Antwort stirbt Robert Lenz. Herzversagen.
Ein Sachbuch mit romanhaften Zügen. Oder die Wahrheit? Das Leben schreibt ja bekanntlich die besten Romane…
Anatoly N. Tkachuk: Ich war im Sarkophag von Tschernobyl. Der Bericht des Überlebenden, Verlagsgruppe styria premium, Wien Graz Klagenfurt, 2011, 320 Seiten, 24,95 Euro
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Schlagwörter: Anatoly N. Tkachuk, Gisela Reller, KGB, Sarkophag, Tschernobyl