von Erhard Weinholz
Morgens um sieben liege ich in meinem Trebbiner Hotel noch im Bett, als ein dünnes Gebimmel anhebt. Ach ja, das Frühstücksbuffet, denke ich. Doch der Glockenton kommt von draußen, von der Kirche gleich nebenan; St. Joseph ist der neoromanische Bau geweiht. Wie ich auf seine Rückfront schaue, auf Langhaus und Turmpaar, das Kirchengeläut höre, das vielleicht nicht anders klingt als das vor tausend Jahren, fühle ich mich einen Moment lang in diese Zeit zurückversetzt, eine Verzauberung, wie man sie wohl nur in der Fremde erlebt.
Heute, am zweiten Tag meiner Teltow-Fläming-Wanderung, ist Luckenwalde das Ziel; sechzehn Kilometer, das wird in vier, fünf Stunden zu schaffen sein. So bleibt nach dem Frühstück noch Zeit für einen Rundgang. Der Heimatort Hans Clauerts, des märkischen Eulenspiegels, besteht aus drei Haupt- und einigen Nebenstraßen und hatte 1905, so mein alter Brockhaus, 3.656 Einwohner, die sich von der Tischlerei und Drechslerei, der Landwirtschaft und der Cigarrenfabrikation ernährten. Inzwischen dürften es, Zugewinne durch Eingemeindungen nicht gerechnet, eher weniger sein; wovon man heute hier lebt, ist auf die Schnelle nicht zu erkennen. Viele der alten Häuser verstecken ihr Fachwerk unter Putz, der immer noch Inschriften trägt wie „Mehl & Kleie Verkauf v. Ferdinand Egeler“; Freunden solcher Fassadengestaltung sei die Webseite Kolonialwaren.net empfohlen.
Der Stadtrand – Trebbin hat nämlich Stadtrecht – ist bald erreicht: „Kliestow 1 km“. Wieder einmal bin ich falsch abgebogen. Aber ich kann auch via Kliestow, über Nebenstraßen und Waldwege, Richtung Süden wandern, vielleicht ist das sogar besser. Auf den Äckern links und rechts steht hoch und dicht, geradezu prächtig, der Mais – danke, lieber Nikita Sergejewitsch. In der Ferne trompetet eine Schar wilder Gänse. Doch allein mit der Natur bin ich auf meinem Wege nicht – ein kleines Flugzeug brummt über mir herum, später ein zweites. Die kommen von Neuenhagen, erklärt mir ein Spaziergänger. Das war doch der zentrale GST-Flugplatz, erinnere ich mich, oft erwähnt in der Fliegerrevue, die mein Vater einst las und die in den fünfziger Jahren den poetischen Namen Flügel der Heimat trug. Unsere Heimat, das sind, wie man weiß, nicht nur die Städte und Dörfer, es sind auch all‘ die Bäume im Wald, den ich nun durchquere, die Steinpilze, die ich am Wegesrand entdecke, die Pfifferlinge und die Butterpilze, die ganze Nester bilden. Mich wiederum entdecken die Mücken, und so bin ich froh, gegen Mittag über die Nuthe wieder auf freies Feld zu kommen. Vier, fünf Meter breit ist sie an dieser Stelle, hat ihre Quelle südlich von Jüterbog und mündet nach siebzig Kilometern bei Potsdam in die Havel. Kein bedeutendes Gewässer also, dennoch bestimmt sie in weitem Umkreis die Landschaft, die oft sumpfig ist und von Gräben durchzogen, was die Wandermöglichkeiten stark beschränkt.
Gleich hinter der Nuthebrücke liegt die Landstraße, auf der ich schon ab Trebbin hatte laufen wollen; bei frühherbstlichem Sonnenschein ziehe ich durch leicht hügeliges Land, den Niederen Fläming, das Grenzgebiet zwischen Brandenburg und Sachsen. Ein gutes Dutzend Kilometer habe ich hinter mir, als ich am frühen Nachmittag in Ruhlsdorf anlange. Schön wäre es, in dem einzigen größeren Ort auf meiner heutigen Tour einen Kaffeeausschank zu finden oder jemanden, der am Straßenrand Gartentomaten anbietet, doch ich sehe nichts dergleichen. Ein Schild verweist auf einen Soldatenfriedhof, es ist nur ein kleiner Umweg dorthin. Keine große Anlage, nicht ganz hundert deutsche Gefallene liegen hier; für je vier hat man ein Kreuz errichtet. Wurde zuletzt noch viel gekämpft um Ruhlsdorf? frage ich eine ältere Dame auf dem Dorffriedhof gleich nebenan. Soldaten, die dem Kessel von Halbe hatten entkommen können, seien in der Gegend auf sowjetische Einheiten gestoßen; Dorfbewohner, darunter ihr Vater, hätten die Toten aus den Wäldern geborgen. Viele waren erst siebzehn oder achtzehn, oft liest man auch „Unbekannter Soldat“ auf den Kreuzen.
Am Ortsausgang stehe ich an einem Scheideweg: Laufe ich die kürzere Strecke auf besserer Straße oder die längere auf schlechterer? Ich wähle letztere und werde dafür vom Schicksal belohnt: Ein Stück weiter, etwas seitab, wird in einem Laden Wildbret verkauft, auch ein Imbiss wird geboten, und so kriege ich endlich meinen Kaffee. Bis zur Rudi-Dutschke-Stadt sind es jetzt nur noch zwei, drei Kilometer. Ich betrete sie gleichsam durch die Hintertür, über verwilderte Flächen, die einst Rieselfelder waren, und am Klärwerk vorbei. Eine gute Adresse: „Herzlich willkommen in unserer Seniorenresidenz Am Klärwerk 1 – 3.“ Am Saum eines Wäldchens finde ich sogar wild wachsende Tomaten, doch die Früchte müssen erst reifen.
Auf der Straße des Friedens – und nicht etwa einer Kaiser-Wilhelm- oder gar Hindenburgallee – nähere ich mich dem Zentrum. Zunächst, in den nördlichen Neubaugebieten, ist die Stadtwelt noch in Ordnung, nur ein großer Block steht leer. Luckenwalde hatte um 1950 mehr als 30.000 Einwohner, war damals sicherlich überbevölkert; zum Ende der DDR waren es dreitausend weniger, jetzt ist man bei 20.000 angelangt. Zwar sichert die Stellung als Kreisstadt dem Ort einige Bedeutung und vor allem Arbeitsplätze, doch von der Tuchfabrikation, einst wichtigster Gewerbezweig, ist nach der Währungsunion nichts, von anderen Branchen wenig geblieben; Neuansiedlungen haben, wie fast überall im Osten, den Verlust nicht ausgleichen können. Und so sind Leerstand und Verfall in den älteren Vierteln unübersehbar, auch wenn der Straßenzug, der hinführt zum mittelalterlichen Stadtkern, insgesamt intakt und von Kneipen und Läden gesäumt ist. Bei einem Trödler finde ich zwischen allerlei gedrucktem Plunder eine schöne alte Ausgabe von Benno Voelkners „Zinneck und Lulu“. Ein Stück weiter wirbt ein geparktes Auto, Kennzeichen TF, für die Webseite rotlichtadressen.de. Vielleicht vom Arbeitsamt finanziert? Zuletzt begegne ich einer alten Bekannten, der B 101, die nach wie vor quer durch die Stadt verläuft. Mein Hotel, eine spätbarocke Vierflügelanlage, liegt direkt an der vielbefahrenen Straße. In meinem schönen Zimmer aber ist es still. Am Abend bestelle ich in der Lounge einen Flammkuchen mit Pfifferlingen und erwarte für meine acht Euro ein gut handgroßes Stück; eine magenfüllende Portion wird serviert. Wie auf einer Insel komme ich mir in dieser Herberge vor, einer Insel gutbürgerlichen Lebens inmitten des Niedergangs ringsum, der auch sie bedroht.
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