von Heerke Hummel
Wieder und wieder sorgen Ratingagenturen mit ihren Bewertungen der Kreditwürdigkeit von Banken, Unternehmen und sogar Staaten für mediale Aufmerksamkeit. Und sie geraten, weil ihre Einschätzungen immer häufiger die Weltwirtschaft zu gefährden drohen, in die öffentliche Kritik, werden nun – nach den „Bankern“ – zu Prügelknaben nicht nur an den Stammtischen, sondern auch der Ökonomenzunft in der Wissenschaft und sogar von Regierungskreisen. Dabei verkünden sie doch nur, was Sache ist; in der Regel jedenfalls.
Um von vornherein klarzustellen: Ich will sie und die Banker nicht reinwaschen. Aber diese und jene sind nicht das Problem, an dem die Welt krankt! Sie tun nur ihre „Pflicht“, das, was alle Welt, das „System“ (das Handelsblatt titelte am 19. Juli dieses Jahres: „Commerzbank ist eine von 28 systemrelevanten Banken“), von ihnen erwartet, mal besser, mal schlechter – und dies immer häufiger und je nachdem, was als schlecht angesehen wird. Eben darum hören wir immer öfter von ihnen – ganz im Unterschied zu früher, als vor allem der kapitalistische Unternehmer als Ausbeuter des Arbeitsvolks am scheinheiligen Pranger stand.
Die Welt der Wirtschaft, die Art und Weise des Wirtschaftens der Menschheit hat sich seitdem grundlegend verändert. Doch ihre Instrumentarien, ihre Organe und Organisationsformen wurden als sakrosankt eingefroren, besser: für unantastbar erklärt. Vor reichlich hundert Jahren waren Banken als privatwirtschaftliche Unternehmungen auf das Urteil von Fachleuten angewiesen, um die Kreditwürdigkeit ihrer ebenfalls privaten, in der Hauptsache auf einem nationalen Binnenmarkt und mit einer nationalen, ans Edelmetall gebundenen Währung agierenden Kunden beurteilen zu können. Und sie bekamen es von Agenturen, die sich privatwirtschaftlich auf derlei Untersuchungen spezialisiert hatten.
Die inzwischen vor sich gegangene weltweite Vergesellschaftung allen Wirtschaftens wird mit dem dafür erfundenen und eingebürgerten Begriff der Globalisierung nur eindimensional geografisch interpretiert. Dass aber zugleich die Wirtschaft und das Geld- und Finanzsystem nicht nur die Dimensionen des Privaten sowie ihr privates Wesen verloren, wird nicht anerkannt, die private Natur all dessen nicht einmal in Frage gestellt. Wie und von wem denn auch, wo doch die alten Formen, Namen und Begriffe den Eindruck vermitteln und das Rechtssystem die juristische Order schafft, Geld und Finanzen, Produktion von Gütern oder Leistungen sowie der Verbrauch von Ressourcen seien eine private Angelegenheit jedes Bürgers.
Dass heute in allen Teilen der Welt Regierungen mit Hunderten Milliarden Euros und Dollars öffentlicher Mittel „private“ Banken und ganze Staaten vor der Pleite retten, scheint niemandem die Frage in den Kopf zu rücken: Was ist da – der Sache nach – eigentlich noch privat? Auch für den Präsidenten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft Dennis Snower (vgl. Blättchen Nr. 4/2006) scheint die Frage außerhalb seines Denkvermögens zu liegen. Doch von den Ratingagenturen verlangt er, dass sie ihre Rechenmodelle offen legen, damit die Grundlagen ihrer Entscheidung transparent würden. Bei der US-Immobilienkrise von 2008 hätten sie total versagt, ja sogar noch dazu beigetragen, meint der Wirtschaftswissenschaftler. Und sein eigenes Institut – welchen Beitrag leistet es, Krisen nicht nur zu prognostizieren (dazu gehört heute angesichts der immensen Schuldenberge weltweit nicht mehr viel Durchblick), sondern deren systemische Ursachen aufzudecken und zu bekämpfen? Andererseits: Wie sollen denn überhaupt in einer Gesellschaft, welche die Wirtschaft und das Wirtschaften zu einem Glücksspiel hat verkommen lassen, in der Gemeindevorsteher und Stadtväter mit den öffentlichen Finanzen ihrer Bürger, um die Haushaltslage zu sanieren, Wetten auf Kursentwicklungen beispielsweise des Schweizer Franken abschließen, zuverlässige ökonomische Prognosen angestellt werden können? Doch auch dies alles ist nur die Folge allergrößter Fehlleistungen der tonangebenden, bürgerlichen wirtschaftswissenschaftlichen Forschung (und der Wissenschaft von der heutigen menschlichen Gesellschaft ganz allgemein), die ein desaströses ökonomisches Denken und Handeln der Menschheit weltweit erzeugt hat.
In dieser Situation sind Finanz- und Wirtschaftspraktiker, aber auch Politiker nur zu bedauern. Denn sie sollen in einer gründlich veränderten Welt „ihren Job machen“ – mit veralteten Instrumentarien und mit Ideen, deren theoretische Basis mehr als zweihundert Jahre alt ist, also dem Frühstadium der Industrialisierung entspricht; so als sollte ein Physiker, nur gestützt auf ein Lehrbuch aus dem neunzehnten Jahrhundert, die Energie der Sonne für den Antrieb einer Droschke nutzbar machen. Der Vergleich mag hinken. Doch unsere Bundeskanzlerin ist wissenschaftlich ausgebildete Physikerin, will und muss aber ihren „Job“ als Politikerin machen und als solche unter anderem auch über hoch komplexe ökonomische Fragen von internationaler Tragweite entscheiden. Davon betroffen sind Milliarden technisch, ökonomisch, sozial und kulturell „vernetzte“ Menschen. Als der schottische Ökonom Adam Smith 1776 mit seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen – Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen“ die klassische Nationalökonomie begründete und mit ihr die Saat des noch heute herrschenden ökonomischen Denkens legte, hatte der Preußenkönig Friedrich II. seinen Untertanen gerade den Anbau von Kartoffeln verordnet, um des Hungers Herr zu werden. Dieser war (wie Angela Merkel) zwar auch kein ausgebildeter Ökonom, doch seine Probleme waren von ihm noch überschaubar und in der Sache verstanden worden. Was dagegen heute in der Finanzwirtschaft vor sich geht, durchschauen selbst Experten kaum noch; jedenfalls nicht in der Bedeutung für die globalen Fernwirkungen.
Heute aber sollen Politiker, die für wenige Jahre in ihr Amt gekommen sind, über Fragen entscheiden, die sie in ihrem sachlichen Kern kaum beurteilen können und deshalb auf den Rat Dritter angewiesen sind. Mit der „parlamentarischen Demokratie“ wird versucht, auf einem Kampffeld von Lobbyisten aus divergierenden Einzelinteressen in der Gesellschaft heraus eine Gesamtstrategie mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu entwerfen. Und dabei wird, weil man sich dem Axiom von der privaten Natur allen ökonomischen Handelns bedingungslos unterwirft, darauf verzichtet, aus dem Gesamtinteresse der Menschheit (nämlich unseren Globus zukunftssichernd zu bewirtschaften) die Handlungsfreiräume der einzelnen Regionen, Staaten und ihrer Bürger abzuleiten. Ansätze, die es dazu in Gestalt des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon) in Osteuropa und Asien schon einmal gab, wurden mit den dortigen Reformen von 1990 ausgerottet und im Denken tabuisiert. – Zu Unrecht, denn sie entsprachen, ungeachtet aller Probleme in den Formen und Bedingungen der Zusammenarbeit, ihrem Wesen nach der Notwendigkeit, unseren Erdball nicht in einem Machtkampf aller gegen alle, sondern in solidarischer Gemeinschaft zu bewirtschaften. Und sie weiterzuentwickeln, anstatt die weltwirtschaftliche Entwicklung vom Urteil privatwirtschaftlicher Ratingagenturen, die ohnehin Dummen sind, abhängig zu machen, wäre eines Versuchs wert gewesen.
Trost in dieser deprimierenden Lage: Die Saat, die zwischen 1917 und 1990 gelegt wurde, ist trotz aller Denkver- und Gebote nicht auszurotten, sie keimt von neuem im Untergrund des Denkens nicht nur von Marxisten. Auf einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg Ende September mahnte Hermann Ott, MdB und Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ für BÜNDNIS 90/Die Grünen, nicht nur eine europäische, sondern sogar eine globale Transferunion an. Allerdings, so der ausgewiesene Klima-Forscher, würde man sich derzeit mit einer solchen, wenn auch richtigen These ins politische Abseits stellen.
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