14. Jahrgang | Nummer 22 | 31. Oktober 2011

Ich möchte endlich wissen!

von Erwin Pelzig

Das Problem dieser schwierigen Zeit ist, dass dauernd versucht wird, Antworten zu geben statt endlich die richtigen Fragen zu stellen. Dabei hätte ich so viele Fragen. Ich würde so gerne mal wissen, wie es sein kann, dass die Investmentbank Goldman-Sachs zur Zeit empfiehlt, gegen Europa und gegen den Euro zu wetten und warum die gleiche Bank europäische Regierungen berät, wie Europa und der Euro zu retten ist und ich möchte wissen, wieso der Deutschland-Chef dieser Scheißbank Alexander Dibelius der Ansicht ist, die Banken hätten keine Verpflichtung fürs Allgemeinwohl und wieso dieser Vogel unsere Bundesregierung beraten dürfte und ich würde gerne wissen, warum mir am tränenreichen verflennten 11. September keine Sau erklärt hat, wo eigentlich die viertausend Milliarden Dollar geblieben sind, die der Irakkrieg bis jetzt gekostet hat, weil 4.000 Milliarden Dollar – das Geld muss ja irgendwo sein, weil’s irgendwer haben tut und arbeiten, anschaffen lässt, das arme Geld auf den Strich schickt und ich möchte wissen, ob der Terrorismus nicht ein Riesengeschäft ist, das den längst sterbebereiten und so bedauernswerten Kapitalismus daran hindert, endlich sanft einzuschlummern und wissen möchte ich auch, warum alle nur noch von Schulden- Schulden-Schulden reden, wo doch viertausend Milliarden Dollar irgendwo in der Welt ihr Unwesen treiben, und ich tät gern wissen, warum man bei den Sparpaketen das Geld bei den vielen holt, die wenig haben und warum man das Geld nicht bei den wenigen holt, die alles haben und ich möchte wissen, warum das ungerecht sein soll, weil wie es jetzt ist, ist es ja auch ungerecht und wenn es nicht ohne Ungerechtigkeit geht, möchte ich wissen, ob es dann nicht besser wäre, die Ungerechtigkeit auf möglichst wenig Menschen zu verteilen, das aber möglichst gerecht und ich möchte wissen, was sich diese Bundesregierung gedacht hat bei dem Steuerdeal mit der Schweiz, wo dieses ganze deutsche Steuerhinterzieherpack, das allein in der Schweiz mindestens 150 Milliarden schwarze Euro gebunkert hat, warum genau dieses Gesindel juristisch völlig ungeschoren davonkommt und ob’s nicht gerechter wäre, auf die paar schweizer Ablass-Milliarden zu verzichten und das asoziale Hinterzieherpack besser in Angst und Schrecken zu halten, dass die nachts nicht mehr schlafen können, weil sie Schiss haben müssen, dass ihnen doch noch einer draufkommt und ich möchte bitte ganz genau, aber ganz genau wissen, was die Kanzlerin meint, wenn sie sagt, das Parlament soll bei den Rettungsschirmen marktkonform mitbestimmen können und ob sie vielleicht eine marktkonforme Demokratie im Auge hat und wenn sie eine marktkonforme Demokratie im Auge hat, dann möchte ich wissen, ob ihr nicht vielleicht schon mal der Gedanke eines demokratiekonformen Marktes gekommen ist, und ich möchte wissen, warum es im deutschen Fernsehen zum Beispiel am Abend kurz vor den Nachrichten nicht eine eigene kleine Sendung gibt für die neun Millionen Menschen mit Burnoutsyndrom oder für die neun Millionen mit Alkoholproblem oder für die 20 Millionen Raucher in Deutschland, dass man ihnen jeden Tag vor den Nachrichten ein paar Minuten hilft, von der Sucht loszukommen, ich meine 20 Millionen Raucher, das ist doch was, möchte ich mal wissen, warum ich mir wegen der nur dreieinhalb Millionen Aktienbesitzer dauernd täglich und im Radio jede Stunde und im Fernsehen rauf und runter unentwegt irgendeinen Scheißdreck vom Dax erzählen lassen muss und ich möchte wissen, warum die Börse meine Existenz und meine Lebensfreude, meine Leidenschaft und meine Liebe zerstören darf, auch wenn ich selbst keine einzige Aktie besitze und ich möchte wissen, wo genau der Unterschied liegt zwischen den verachtenswerten Absichten eines jugendlichen Plünderers in London und den Gewinnzielen der Deutschen Bank. Und ich möchte endlich, endlich wissen, ob’s am Wochenende regnet, weil ich tät’ gern grillen…

Frank-Markus Barwasser, alias Erwin Pelzig, in „Neues aus der Anstalt“ (ZDF) vom
27. 9. 2011. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.