14. Jahrgang | Nummer 21 | 17. Oktober 2011

Compagnie LEFTIE – ein tragikomisches Missverständnis

von Thomas M. Wandel

Jaja, die historischen Rollen. An deren Definition, Zuweisung und Erprobung in der Praxis sind schon ganze Bewegungen und Staat gewordene Rollenbücher gescheitert. Am Ende standen Buhrufe und Ärgeres für die Regisseure, für betroffene Akteure, die sich im falschen Stück wieder zu finden meinten und für Pleite gegangene Staats-Theater. Das kömmt, wenn sich Dramaturgie und Regie auch dann noch an die bewährte Aufführungspraxis halten, wenn das Stück anachronistisch geworden und das Publikum, für das man sich alles so schön erdacht, der moralischen Anstalt längst Valet gesagt, den schnöden Alltag fürs Theater nimmt und sich darin eine auskömmliche Rolle sucht. Das Publikum darf das und mehr. Selbst wenn sich die ihm eben noch als auskömmlich erschienene Rolle über kurz oder lang als Trug erweist und es die Hintersinnigkeit des ewigen Vorschau-Abspannes „Demnächst in diesem Theater“ partout nicht begreifen kann oder will, darf es auf Autoren, Regisseure und Hauptdarsteller schimpfen, denen es sich doch immer wieder lustvoll oder gelangweilt ausliefert, und auf seiner eigenen Unschuld beharren. Und alle dürfen, wenn der Spielplan geplatzt ist, über alles reden, alles in Frage stellen. Und vor allem einen neuen Spielplan aufstellen. Nur eines darf nicht in Frage gestellt werden: Das Theater. Denn nur darin haben ja alle ihre gewohnte, teils liebgewordene, teils erlittene, auch elende, aber immerhin: eine Rolle.
Darin liegt auch die Tragik der Compagnie LEFTIE, die derzeit solch großen Publikumsverlust hinnehmen muss, dass sich – begleitet vom Grollen eines missvergnügten, zahlenmäßig halbierten Stamm-Publikums – Regisseure, Dramaturgen (in dieser Truppe auch „Vordenker“ geheißen) und Hauptdarsteller zunehmend überwerfen,. Darüber nämlich, dass man sich nicht, als das eigene Theater zerstört am Boden lag,  auf Straßen-Theater einlassen wollte – mit der Begründung, das Publikum wolle Vorstellung um jeden Preis und in möglichst bequemen Sitzen. Straßen-Theater ist auf den ersten Blick zwar auch nur Theater, aber doch in zwei wichtige Gruppierungen unterschieden: Die einen, die es nur als leider erzwungene Durchgangsstation auf dem Wege ins Staats-Theater betrachten und die anderen, die sich dem ganzen etablierten Theaterbetrieb verweigern – aus der Einsicht, dass im konstitutionellen Theater weder für die Akteure noch fürs Publikum mehr zu gewinnen sei als eine irgendeine Variante der Teilhabe am vorgegebenen Spielplan und die deshalb lieber gemeinsam mit einem freilich zahlenmäßig geringen Publikum ein eigenes Spiel entwickeln, das auf den Ersatz eines jeglichen Staatstheaters durch einen von allen getragenen Spielplan setzt, in dem alle Autoren, Dramaturgen, Regisseure und Akteure zugleich sind. Bloß halt keine Darsteller in irgendwelchen Rollen.
Solcherlei fragile Existenz muss man sich halt überhaupt erst einmal vorstellen wollen. Und können. Wollten und wollen Mehrheiten in der Compagnie LEFTIE aber nicht. Die Intendanz setzte stattdessen auf die alte Theaterring-Konzeption: Wir müssen unsere Zuschauer dort abholen, wo sie gerade sind. Und wir müssen ihre Sorgen und Nöte zu unserem Programm machen. Hei, da ließen sich Spielpläne entwerfen! Ganz nah dran am Publikum. Und provozierend für alle etablierten Spielstätten. Und siehe: Das Publikum kam, neugierig und gespannt, ob und wie denn die Hauptdarsteller dieses Theaters ihr tolles Programm auf die Bühne und von dort ins richtige Leben tragen würden. Dass bei den alten Spielstätten nur weiße Hasen aus den verschiedenfarbigen Zylindern gezogen wurden, war dem Publikum leidlich bekannt, aber bisher stand ja nix anderes auf dem Großen Spielplan. Aber hier nun: Der eigene Spielplan, alle eigenen Fragen auf dem Programm. Und das Versprechen der Protagonisten: Wir wollen nicht nur spielen!!! So füllte das Publikum die Säle der Compagnie zum Wohl derselben und zum Neid der etablierten Theater. Bei letzteren wuchs aber nicht nur der Neid, sondern auch die Sorge: Das Publikum, das zu den Vorstellungen der Compagnie LEFTIE ging, fehlte dem eigenen Theaterbetrieb. So hub ein Streit an unter den Etablierten, ob man diese Compagnie verbieten oder mitspielen lassen solle im großen Staats-Theater. Im letzteren Falle wären das ganze Publikum wieder unter einem Hut und das Problem ausgestanden. Und als das Hauptstadt-Theater einmal überhaupt nicht mehr laufen wollte, fragte die neu gewählte Intendanz, der noch Ring-Abos fehlten, in ihrer Not bei der Compagnie LEFTIE an, ob sie denn nicht… Und während noch die Mehrheit aller Theaterkritiker von einer Ohnmacht in die andere fiel ob der Unvorsichtigkeit und Naivität des designierten Intendanten, hatten die Berliner Hauptdarsteller der Compagnie LEFTIE längst gerufen: Aber sicher wollen wir! Und können wir! Und ihr Publikum schaute gespannt, was vom Spielplan ihrer geliebten Truppe in dem des Neuen Theaters auftauchen und – vor allem – sich in ihrem Leben bemerkbar machen würde.
Zu Anfang zeigte man sich allseits verständig, dass ein gemeinsamer Spielplan halt etwas anderes sei als das Programm des eigenen Theaters, weshalb auf manches zu verzichten sei. Auch war zunächst noch zu vermitteln, dass vieles, was im Provinz-Theater übermütig in den Plan gerückt, wenn überhaupt, nur auf Staats-Theaterebene gespielt werden konnte; von im Theater nicht spielbaren, dennoch populären Texten mal ganz abgesehen.
Als sich im Fortgang der Inszenierungen, die durch die Duldsamkeit des Publikums noch eine zweite Saison erfuhren, jedoch nach und nach heraus stellte, dass der Text der eigenen Hauptdarsteller entweder vom Intendanten souffliert wurde oder aber nur Stichworte für gewaltigen Theaterdonner gaben, das Programm derweil aber denen der etablierten Theater immer mehr ähnelte, geschah das, was dann immer im Theater geschieht: Es gibt ungeduldige und unduldsame Zeitgenossen, die noch während der laufenden Vorstellung das Theater verlassen. Oder durch Abo-Kündigungen keine dritte Spielzeit mehr möglich machen.
Das Ende des Liedes ist bekannt: Wer zu wenig Ring-Abos hat, kann im Großen Theater nicht mitspielen.
Der Theaterbetrieb hat freilich seine bewährten Traditionen, mit solchen Spielplankrächen fertig zu werden, ohne das Theater selbst zu beschädigen. Zum Beispiel das auch in der Hauptstadt angewandte Instrument der verdeckten Publikumsbeschimpfung: Dramaturgen und Regisseure geben sich zerknirscht, weil es ihnen nicht hinreichend gelungen sei, ihre erfolgreiche Inszenierung dem Publikum zu vermitteln. Was gut klingt, aber unterm Strich heißt, das Publikum sei halt zu blöd, die Qualität des gebotenen Theaters zu kapieren. Dass das Publikum wegbleiben könnte, weil es die Inszenierung nur zu gut begriffen hat, bleibt unerörtert.
Nun geht das Hauen und Stechen in der Compagnie LEFTIE darum, ob man dem Publikum wieder mehr versprechen soll (einige ganz Mutige versteigen sich sogar zu der Idee, man könne dem Publikum – zumindest für eine ferne Zukunft – eine Abschaffung des Theaters, also des Ersatzes einer gelebten Illusion durch eine lebbare Realität, wenigstens als angestrebt ankündigen), andere verlangen dagegen mehr Anpassung an die laufenden Spielpläne und den Publikumsgeschmack.
Um das tragikomische Missverständnis, das dabei mitschwingt, klar zu benennen, muss der Kritiker allerdings offene Publikumsbeschimpfung betreiben: So lange das Publikum – auch und gerade das der Compagnie LEFTIE – mehrheitlich, wider besseres Wissen und angesichts der offenbaren Pleite auf ein besseres Staats-Theater hofft, verdient es die Inszenierungen, die es vorgesetzt bekommt. Es verdient sie doppelt und dreifach: Zum ersten, weil es sich beharrlich weigert, die strukturelle Unvernunft, ja Verrücktheit des ganzen Theaterbetriebes zur Kenntnis zu nehmen und sich statt dessen einbildet, seine jeweiligen Hauptdarsteller würden einen „vernünftigen“ Spielplan auf die Beine stellen, wenn man sie denn nur ließe. Zum zweiten, weil es in schöner und auch im östlichen Provinztheater schon perfekt angelernter Arroganz und Borniertheit das vergleichsweise leise Krachen im Gebälk des Theaters vor der Haustür als Beleg nimmt, dass das große Weltentheater noch zu retten sei, wenn man andernorts doch nur so vernünftig wie das hiesige Publikum agiere. Und zum dritten, weil selbst noch die ärmsten und beklagenswertesten Teile des Publikums lieber auf einen Bildungs-Fünfer für die nächste Vorstellung hoffen, statt das ganze Theater… Aber ja doch: Autoren, Regisseure, Dramaturgen, Darsteller und Publikum sind alle gemeinsam das Theater! Jeder spielt eine Rolle! Wer also will sich über wen beschweren?
Hier haben nun bedenklich-wohlwollende Theater-Vordenker mit sorgenumwölkter Stirn, die Abo-Werber, die das Publikum da abholen wollen, wo es… ihren fälligen Auftritt und teilen dem Kritiker mit: Dein Hochmut ist unerträglich. Nur weil du nicht auf den staatlichen Notgroschen angewiesen bist, kannst du dir solch Hohelied einer theaterfreien Gesellschaft erlauben. Und die realen Nöte der Notgroschenempfänger ignorieren, die doch schon mit einer kleinen Erhöhung ihres Notgroschens besser… Ja? muss der Kritiker, knapp vor einem Wutanfall, dann unhöflich ins Wort fallen, ja? was denn besser? Ins Theater gehen? An der Tragikomödie teilhaben, in der alle Beteiligten, Publikum eingeschlossen, sich glauben machen, es sei nur „Vernunft“ und „Sachverstand“ nötig, damit der Betrieb weiter laufen kann, Notgroschen inklusive? Und geflissentlich übersehen wird, dass der Laden vor der Haustür nur noch auf Kosten entfernter Theater läuft, deren Darstellern man aber gern eine Solidaritätsadresse und gelegentlich eine Spende zukommen lässt?
Du verlässt den Argumentationsrahmen des Theaters, entgegnet seufzend und milde lächelnd ein linker Hauptdarsteller. Richtig, antwortet der Kritiker, lauscht auf ein leises, aber fröhlich-aufmüpfiges Gelärme einer kleinen Straßentruppe draußen, tritt vor die Theatertüre, atmet frische, nächtliche Luft und gesellt sich zu der kleinen Minderheit auf der Straße.