14. Jahrgang | Nummer 22 | 31. Oktober 2011

Bemerkungen

Solveig Hansson gestorben

Am 20. September starb in Stockholm Solveig Hansson. Sie wurde 97 Jahre alt und sie war ihr ganzes Leben eine Frau mit reichem und wachem Intellekt. Ihr Name ist in Berlin unter älteren Antifaschisten sehr bekannt. Solveig Hansson wuchs in der zweitgrößten Stadt Schwedens, Göteborg auf. Hier schloss sie sich den Kommunisten an und wurde mit nur 20 Jahren zu einer Ausbildung als Telegraphistin zur Komintern geschickt. Zurück in Göteborg wurde sie jüngstes Mitglied der dortigen Stadtverordnetenversammlung. Als deutsche Antifaschisten auf der Flucht vor Hitler und dem Zweiten Weltkrieg nach Stockholm kamen, wurde Solveig eine selbstverständliche Kontaktperson: Sie hatte von der Kommunistischen Internationale den Auftrag bekommen diesen Flüchtlingen zu helfen. Sie half und arbeitete unter anderem zusammen mit Richard Stahlmann, Georg Henke, Karl Mewis und vor allem Herbert Wehner. Am 18. Februar 1942 führte die schwedische Polizei eine „Razzia“ in der Stockholmer Wohnung der deutschen Emigrantin Frieda Wagner durch. Unter dem Bett fand man Herbert Wehner. Es folgten lange Verhöre und Prozesse. Während dieser Verhöre wurde bekannt, dass Solveig Hansson Herbert Wehners Kontaktperson in Schweden war und sie ihm in Stockholm geholfen hatte. Daraufhin wurde sie auch verhaftet. Das Urteil gegen Solveig Hansson wurde wegen der Arbeit „mit dem Ziel die Regierung eines Schweden freundschaftlich verbundenen Landes zu stürzen“ (Hitlerdeutschland!) begründet. Wehner wurde zu einem Jahr und Solveig Hansson zu neun Monaten Gefängnis verurteilt.
Nach der Haft setzte sie ihre Arbeit mit den antifaschistischen Flüchtlingen in Stockholm fort. Daraus entstanden Kontakte und Freundschaften, die ein Leben lang dauerten. Ihre wichtige Arbeit während des Krieges ist in Peter Weiss’ Buch „Ästhetik des Widerstandes“ eingeflossen. In Schweden arbeitete sie politisch im „Svenska Kvinnors Förbund“ (Verband der schwedischen Frauen) und sie war auch aktiv in der „Women’s International Democratic Federation“. Als Solveig Hansson bereits nahe dem Pensionsalter war, ereignete sich 1974 die portugiesische „Nelkenrevolution“. Sie stürzte sich sofort in die Unterstützungsarbeit, ist Mitbegründerin der schwedischen Solidaritätsorganisation „Portugalkomitee“ und fuhr öfters in das revolutionäre Portugal. Während ihres langen Lebens hat sie nie ihre deutschen Freundinnen und Freunde vergessen. Viele Reisen wurden nach Berlin unternommen und sie war ein gern gesehener Gast dort. Jetzt hat sie uns verlassen. Wir trauern um eine mutige und kämpfende Frau.

Åke Wilén, Stockholm

Vorwärts – wohin?

Gaddafi ist tot, die letzte seiner Hochburgen befreit – Libyen kann einer neuen Zukunft entgegensehen und -gehen. Keine Frage ist, dass der Sturz des in seiner Totalität schon aberwitzigen Regimes des Alleinherrschers, der einst als Revolutionär gegen Alleinherrschaft angetreten war, ein Fortschritt ist; die Feier der Libyer – bis auf die zahlreichen Putzerfische Gadaffis, auf die nun wohl schwere Zeiten zukommen, verständlich und nachvollziehbar.
Welchen Weg die neu gewonnene Freiheit nun aber gehen wird, ist offen wie der Marcus-Aurelius-Triumphbogen in der Altstadt von Tripolis, mindestens. Dass sich die Außendienstler der Erst-Welt-Länder mit einschlägigen Beratungen vor Ort bereits auf die Füße treten, ist nur sehr bedingt ein gutes Zeichen. Denn eines mag man in Erinnerung behalten. Legt man den  Human Development Index der Vereinten Nationen, einen Wohlstandsindikator also, zugrunde, dann rangierte Libyen dort auf Platz 53 von 165 analysierten Staaten – weit vor zum Beispiel Mexiko, Bulgarien, Russland, Malaysia, Weißrussland, Brasilien oder Peru; Deutschland nimmt übrigens Platz zehn ein. Wenn man nun weiß, dass dieser UN-Index nicht nur das Pro-Kopf-Einkommen sondern auch die Lebenserwartung  – also Gesundheitsfürsorge, Ernährung, Hygiene – und den Bildungsstand erfasst, darf man es wohl durchaus für möglich halten, dass an der Großen Syrte künftig nicht nur Weiterentwicklungen stattfinden werden. Die Erste Welt wird die Dritte schon lehren, was Effizienz ist. Schau’n wir mal – willkommene Irrtümer bei dieser Voraussage werden willkommen sein.

Helge Jürgs

Millisekunden-Demokratie

Es hilft nichts: Jedwede DDR-Larmoyanz scheitert irgendwie und irgendwann an dem unabweisbaren Vorwurf sozialistischer Unbeweglichkeit. Diesbezüglich geläutert, vermitteln wir gern die in ihrer Angestrengtheit hier schwerlich ausreichend zu würdigenden Bemühung unserer Bildungsregenten, ein bundesweit einheitliches Abitur zuwege zu bringen. In Deutsch, Mathe und Englisch sollen alle deutschen Abiturienten dieselben Aufgaben lösen – der Aktionsrat Bildung will zehn Prozent der Note davon abhängig machen. Und nun kommt das Beste: Diese so irrsinnig  komplizierte Operation soll – nein, nicht 2303 – bereits 2018 realisiert werden, ganze sieben Jahre nach Einbringung der  allemal mutig zu nennenden Gesetzesinitiative.  Das hätte man in der DDR in dieser Millisekunden-Frist niemals geschafft.

HWK

ABC-Waffen am Wannsee

Keine Angst, Sie dürfen getrost weiterhin die Badehose einpacken und fröhlich in die Wogen dieser etwas groß geratenen Havel-Bucht eintauchen – wenn nicht gerade Blaualgen oder die Mitglieder eines Motorsportclubs dies verhindern. Es geht um die Oper. Nach dem Meckern über Politiker, die man immer wieder wählt und Fußballclubs, die immer wieder mal in die nächstniedrige Liga absteigen – denen man aber dennoch die Treue hält, ist die der Berliner liebste Beschäftigung. In den Warteschlangen zur Besichtigung von in Urzeiten gemalten Gesichtern stehen Touristen. Wir brauchen nicht den Anblick von Cesare Borgia, wir haben Frank Henkel.
Am Ufer besagten Wannsees nämlich, den genau genommen erst unsere vortreffliche Conny Froboess bekannt gemacht hatte, fand in diesem Sommer Oper statt. Große Oper auf einer Seebühne. Was nämlich das Mittelsächsische Theater aus Döbeln mit einer so genannten Seebühne Kriebstein kann – wo liegt das überhaupt? –, das können wir schon lange! Sagte sich der Musikveranstalter Peter Schwenkow, nachdem ihm der fiese Senat die Waldbühne abgenommen hatte. Aus schnöden Rachegelüsten heraus wollte Schwenkow eine Seebühne an einem Potsdamer Gewässer errichten. Aber die Bewohner des Berliner Balkons befürchteten Krach und zusätzliche Autokarawanen. Sie schoben allerdings, um nicht als undankbare Kulturbanausen zu gelten, den Schutz der Frösche im Templiner See vor. Man sollte die Stadt in Neu-Abdera umbenennen, nach Wielands berühmtem Roman über die Okkupation der griechischen Stadt durch die Frösche der Göttin Lakona.
Berlin jedenfalls profitierte vom abderitischen Naturschutz. Peter Schwenkow kehrte zurück, und die Stadt nahm den verlorenen Sohn gern wieder in ihre Arme und stellte ihm ein Stück Strand zur Verfügung. Der linken Umweltsenatorin wurde bedeutet, ihr Spielchen nicht auf Potsdamer Weise zu betreiben und der Konzertveranstalter ließ die Künstlerin Katharina Thalbach eine Oper inszenieren. „Die Zauberflöte“ nach einem Stück eines gewissen W.A. Mozart aus Wien – das keine Seebühne hat… Auch wenn es kaum nachvollziehbar ist, weshalb Tausende eine Menge Geld ausgeben, um unter permanenter Mückenbelästigung Musik aus Lautsprechern zu hören, immerhin 40.000 Menschen taten sich das an, und die Taler sprangen in den Kasten. Mit „Carmen“ – leider ist das öffentliche Abstechen von Stieren in Berlin nicht machbar – geht es im nächsten August weiter. „Carmen“? Wollen wir wetten: Danach wird es „Butterfly“ geben – vom Wasser her kann man den Leutnant Pinkerton mit Hilfe der Bundesmarine auf beeindruckende Weise anlanden lassen – oder „Aida“. Heinrich Heines Begeisterung über den großen Elefanten in Spontinis „Olympia“ im Jahre 1822 lässt sich unter Garantie toppen. Anna Netrebko auf einem weißen Elefanten. Rolando Villazón auf einem schwarzen Elefanten. Der Chor auf Dromedaren. Auf einem Esel der Kultursenator. Ach ja, was ist denn nun mit der Politik? Niemand sage, Berliner Kulturpolitik sei folgenlos! Vor einiger Zeit hörte der hiesige Kulturausschuss die Berliner Opernintendanten an. Tapfer verteidigte die damals ob ihrer miserablen Auslastungszahlen heftig gescholtene Kirsten Harms von der Deutschen Oper ihr Repertoire und meinte, natürlich wäre es ein leichtes, die ABC-Waffen einzusetzen. ABC-Waffen? Ja: Aida-Butterfly-Carmen. Im Saal saß der Impressario Schwenkow. Frau Harms ist mittlerweile gefeuert und Schwenkow positioniert  sein Arsenal am Wannsee. That’s Berlin!

Wolfgang Brauer

Globale Zahlenspiele

Lediglich zwölf Jahre hat es gedauert, um die Weltbevölkerung um eine Milliarde anwachsen zu lassen. Am heutigen Montag, dem 31. Oktober 2011, so die Prognose der Vereinten Nationen, fällt die Grenze zur siebten Milliarde. Wenn die Hochrechnung der derzeit global erwachenden und agierenden Demonstranten  gegen die Allmacht des Kapitals auch nur annähernd stimmt, und sie die 99 Prozent der zu kurz Gekommenen vertreten, dann würde es sich  dabei um die respektable Masse  von 6.000.000.003  Menschen handeln. O.K. – so dreckig geht’s vor allem in der Ersten Welt noch lange nicht allen, um sich diesem Kreis masochistisch hinzuzählen zu  können. Also ziehen wir ein ordentliches Maß der nach wie vor Zufriedenen ab und reduzieren besagte numerische Größe der Unterbemittelten (ein nahezu blasphemischer Begriff für alle jene, die täglich um nichts weiter kämpfen als ums Überleben) auf 5,5 Milliarden. Macht es da irgendwo Klick bei jenen Genießern abendländischen Wohlstandes, wem sie eben diesen Wohlstand mit verdanken?
Nee, sicher nicht.

Petra Kurz

Wertesystem

Holger Zastrow ist einer der Vizevorsitzenden der FDP. So klein diese Putzerfischpartei auch ist, so darf man einen solchen Posten doch gewiss als gehoben etikettieren. Und man sollte/könnte/dürfte auch annehmen, dass ein Würdenträger solcherart Funktionsepaulette wohlerwogenen Sinnes in der Lage ist, verbal zumindest unter der Schwachsinns-Gürtelline zu agieren. Zastrow ist diesbezüglich überfordert. Seine Antwort auf eine Interviewfrage der Rheinischen Post dieser Tage, ob Schwarz/Gelb auch weiterhin die Koalition seiner Wahl bleibe, beantwortete der analytische Extremkletterer so: „Es gibt für uns nur einen natürlichen Verbündeten, und das ist die Union. Wir haben ein ähnliches Wertegerüst. SPD und Grüne und natürlich erst recht die Linken träumen doch vom Sozialismus. Es steckt ohnehin schon zu viel ‚DDR’ in der heutigen Bundesrepublik, zu viel Staatswirtschaft, zu viel Gleichmacherei, zu viel Bevormundung. Wir brauchen viel mehr Marktwirtschaft. Und die darf nicht nur für die Kleinen gelten, sondern auch für die Großen, auch für die Banken. Leistungsgedanke und Eigenverantwortung zählen in dieser Gesellschaft leider nicht mehr viel. Ich erwarte von Liberalen und Konservativen, dass sie diese Werte aber hochhalten und durchsetzen. Mit den Linksgrünen geht das nicht.“
Vielen Politikern mag man berechtigt vorwerfen, sie hätten keine Ahnung von dem, was Sie da be- und, viel mehr noch, verantworten, vor allem wenn es um die in der Tat schwierig zu durchschauenden finanzpolitischen Angelegenheiten geht. Nun ist solche Ahnungslosigkeit zwar mehr als nur ärgerlich, man könnte sie den Betreffenden aber nur bedingt vorwerfen, für intellektuelle Übersichtlichkeit kann schließlich keiner etwas, nicht einmal ein Volksvertreter. Anders ist’s denn aber doch, wenn jemand wider besseren Wissens – gespeist aus ganz, ganz frischen Erfahrungen mit weltwirtschaftlichen Finanzkrisen, hoch- und runteranalysiert in allen Medien – auf seiner Dummheit beharrt. Denn das ist nun wieder kriminell. Wobei: Die Zastrows nennen das ein Wertesystem.

Barbara Voigt

Medien-Mosaik

Dem fast sympathischen Nichtsnutz Janne ist offenbar die lange Polarnacht aufs Gemüt geschlagen. Nach mehrfachen sinnlosen Versuchen, ihn zu aktivieren, setzt ihm seine Freundin ein Ultimatum. Wenn er bis zum nächsten Morgen keinen Receiver besorgt hat, ist es mit ihnen aus. Janne macht sich mit Freunden auf eine Odyssee durchs winterliche Finnland, wo die Ortschaften durch Dutzende von Kilometern getrennt sind. Natürlich gibt es sonderbare Begegnungen, und immer hätte es Janne fast geschafft, wenn er die Sache aus eigener Dummheit nicht wieder vergeigen würde. „Helden des Polarkreises“ heißt der Film des finnischen Regisseurs Dome Karukoski. In ganz Skandinavien meint man ja, die Finnen hätten einen so ganz speziellen Humor. Das stimmt in der Tat. Für deutsche Augen ist er mit den vielen Finten gewöhnungsbedürftig. Am Ende ist man gar nicht mehr neugierig, ob Janne den Receiver wohl noch empfängt.
Ab 3.11. in zahlreichen deutschen Kinos.

Wer sich gern an langen Abenden an alte Filme erinnert, sollte nicht an dem Band „Gesichter der DEFA“ vorbeigehen. Sandra Bergemann, die hochtalentierte Tochter der verstorbenen Sibylle Bergemann, hat DEFA-Schauspieler aufgesucht und porträtiert und dazu Fotos aus deren bekanntesten Filmen gestellt. Eine Freude, Carmen-Maja Antoni am Schminktisch zu beobachten, in das nachdenkliche Gesicht von Hermann Beyer zu schauen, Angelica Domröse als immer noch kecke Paula zu sehen, aber auch Schauspieler, die inzwischen nicht mehr unter uns sind, in letzten Aufnahmen zu betrachten, wie Erwin Geschonneck (fotografiert an seinem 100. Geburtstag), Eberhard Esche oder Helga Göring (mit ihrem geliebten Hund). Auch Klaus-Peter Thiele, der „Werner Holt“ ist dabei, der erst vor wenigen Wochen starb. Anderen, wie Herbert Köfer und Marion van de Kamp, wird man im nächsten Jahr auf der Leinwand wiederbegegnen. Dazu stehen schöne, nachdenkenswerte Texte, die auf Interviews der Beteiligten beruhen. Ein Band für Mußestunden!
Sandra Bergemann, Die Gesichter der DEFA, Edition Braus, Berlin 2009, 208 Seiten, 39,90 Euro.

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