14. Jahrgang | Nummer 19 | 19. September 2011

Spurensicherung

von Klaus Hammer

In Ost-Berlins Stadtteil Prenzlauer Berg – aber nicht nur dort, sondern auch in Leipzig, in der Dresdner Neustadt und anderswo in der DDR – hatte sich in den neunzehnhundertachtziger Jahren ein alternatives Künstlerbiotop herausgebildet, das vielen der Außenseiter zur Heimat wurde. Sie kamen von überall her, aus der ganzen DDR, suchten hier eine leer stehende Wohnung (der „Prenzlberg“ war kein Vorzeigeobjekt, hier war alles dem Verfall preisgegeben), Hinterhaus, Seitenflügel, Außen-WC, versteht sich, und in den Wohnungen fanden Lesungen, Ausstellungen, Konzerte statt. Man glaubte, ganz unter sich zu sein – und die Stasi war doch immer dabei. Aber der rege Austausch zwischen Malern, Musikern und Autoren, Theaterleuten und Filmemachern ließ doch eine einzigartige Symbiose zwischen den Künsten entstehen. Die Zusammenarbeit ergab ganz eigene Medien, selbst verlegte Zeitschriften (MIKADO, SCHADEN, Poe-sie-all-bum) und Künstler-Editionen, Produzenten- und Selbsthilfegalerien, unikate Text-Grafik-Hefte (Texte wurden in die Grafik integriert, damit man keine Druckgenehmigung einzuholen brauchte), Künstler-Statements, Siebdruckplakate, Collagen und Foto-Text-Montagen, fotografische Autorenporträts, Performances, unabhängige Musik- und Filmproduktionen, konzeptionelle Fotografie, visuelle Poesie, Mail Art-Aktionen, kinetische Objekte und vieles andere mehr. Eine Szene entstand, die neue Zugänge zur Wirklichkeit suchte, die suggestive, Emotionen mobilisierende Kunstereignisse inszenierte. Abstraktion und Figuration verbanden sich, das Zufällige und Programmatische. – ein bizarrer Abgesang auf die Autorität ideologisch gebundener Sprachsysteme. Diese jungen Leute schrieben die Chronik nicht nur dieses Stadtteils, sondern des ganzen, in Machtstrukturen eingebundenen Landes – sie betrieben Spurensicherung. Die Wirklichkeit wurde nach Taten hinterfragt, Konflikte ergaben sich aus Konfrontationen. Einsamkeit, Bedrohung, Widerstand wurden thematisiert. Die Künstler brachten die provozierende Lebendigkeit und subversive Wirksamkeit nicht-traditioneller Medien in das kritische Konzept der Kunst ein.
Bereits 1983/84 gingen die ersten in den Westen, die anderen blieben. In der Wohnküche der Keramikerin Wilfriede Maaß fanden eine Zeitlang die wichtigsten Lesungen der jüngeren DDR-Literatur statt. In ihrer Werkstatt bemalten junge Maler Gefäße und stellten Künstlerbücher her. Anderswo wurde Theater gespielt, das Theater hieß „Zinnober“, durfte sich aber jahrelang nicht Theater nennen. „Jahre der Freundschaft, der Dreistigkeit, der Wachheit, des Mutes, der Kunst – der Begrenzung, der Angst, der Enttäuschung, des Kleinmuts, der Wut. Wir haben mit Lust TROTZDEM gemacht“, so hat der Maler Volker Henze diese Jahre zusammen gefasst.
Diese Breite und Vielfalt will die Ausstellung „poesie des untergrunds“ – bereits 2009 mit Unterstützung der Stiftung Kulturfonds erarbeitet –dokumentieren, die jetzt, nachdem sie vorher im Deutschen Generalkonsulat in New York zu sehen war, in erweiterter Form in Berlin gezeigt wurde. Von dem 1980 in die BRD ausgereisten A. R. Penck eine Siebdruck-Edition, die die geteilte Welt zum Thema hat. Dagegen sind „Achtung Aufnahme“ Übermalungen von Strawalde (Jürgen Böttcher) – die Dokumentation einer Performance in der EP Galerie-Edition Jürgen Schweinebraden. Collagen von Uwe Warnke folgen Erdzeichnungen von Klaus Bender und Stempelbildern von Joseph W. Huber. „Die neunte Stunde“ ist ein Dokument der Zusammenarbeit zwischen dem Lyriker Uwe Kolbe und dem Bildhauer Hans Scheib. Arbeiten von Robert Rehfeldt und Ruth Wolf-Rehfeldt, den Pionieren des internationalen Mail-Netzwerkes, sind ebenso zu sehen wie ein von Cornelia Schleime und Helge Leiberg gestaltetes Ausstellungsplakat. Übermalte Ansichtspostkarten der Hauptstadt der DDR von Sabine Hermann und Klaus Killisch werden zu „Abbildungen des ganz normalen alltäglichen Wahnsinns“, einen Siebdruck-Jahreskalender hat Karla Woisnitza auf Packpapiertüten mit typischem DDR-Design gedruckt und Klaus Zylla steuerte einen T-Shirt bei, den er zu seinem ersten Künstlerbuch „ViehGuren“ bedruckte. „Einem verreckten Kater die Scheiße aus den Därmen dreschen“ heißt das Künstlerbuch mit Gedichten und Zeichnungen des Autors Bert Papenfuss. „Hasenkarten“ – Arbeiten auf Papier – „Made in GDR“ stammen von Oskar Manigk, Foto-Collagen von Thomas Florschütz sind Spiegelungen des „Martyrium des Ich“ (so Christoph Tannert) von Thomas Florschütz. Und so betrachtet man auch in emotionaler Bewegung Thomas Werners Selbsthilfezeitschrift KOMA KINO, die Fotos von Erhard Mondens handlungssymbolischen Aktionen und Performances, Frank Lanzendörfers Schreib-, Mal-, Film- Performance- Schöpfungen (er beging 1988 Selbstmord), die Siebdruckgrafik von Mita Schamal, die Gouachen und Zeichnungen von Veronika Wagner oder die Zeichnungen von Uta Hüninger zu Texten von Detlef Opitz, Bert Papenfuß, und Jan Faktor. Die Fotos von Harald Hauswald zu dem mit Lutz Rathenow herausgegebenen Buch „Die andere Seite einer Stadt“ fesseln ebenso wie die Zeichnung-Foto-Text-Collage von Via Lewandowsky und Else Gabriel „Sublime Liebe“ oder  das Studio-Projekt „The Local Moon“ , das Ronald Lippok gemeinsam mit René Le Doil durchführte. Michael Voges (2003 verstorben) hat mit seinen Grafiken zwei der schönsten Künstlerbücher aus der DDR-Samisdat-Produktion „Vor und zurück“ (Gedichte von Heike Willingham), und „Erwachsenheit“ (Gedichte von Elke Erb) gestaltet. Petra Schramm fügte Zeichnungen zu den poetischen existenziellen Texten der 1986 nach Westberlin übergesiedelten Raja Lubinetzki hinzu und beide machten ein Buch daraus: „Von innen hör ich schall“. Claus Bach zeigt  mit seiner Serie „Kopfkörper“ Personen, die sich Fotos, Tapeten, Signets und andere Gegenstände vor den Kopf halten – der Kopf wird so zum Schirm -, und so entstanden Bildergeschichten, die verschiedene Alltagserfahrungen der achtziger Jahre reflektieren. Im Auftrag der FDJ gestaltete Reinhard Zabka Offsetlithographien „Flugblätter zur Verteidigung des höheren Blödsinns“ und gab die degenerierten Machtstrukturen dem Gelächter preis. Seinen Textbildern und Zeichnungen gab Johannes Jansen den Titel „Der Bauch des Matrosen“: „und ich denk mir, entweder riesenhaft oder zum Untergeher verkommen, oder ein riesenhafter Untergeher gegen die Fassade gelehnt, und keiner kann sagen, wer wen stützt“. In einer Foto-Collage, die Thomas Günther mit Claus Bach und Sabine Jahn gestaltete, heißt es: “Denn man fürchtete, ihre Poesie könnte aus den Büchern heraustreten und die Wirklichkeit auf den Kopf stellen“. Aber auch die Bronzeskulpuren „Der Rufer“ von Rolf Biebl und “Stehende mit verschränkten Armen“ oder Hans Scheibs bemalte Holzskulptur „Du musst doch BEWAFFNET sein“ dürfen nicht vergessen werden.
Die Ausstellung präsentiert andere, ungewohnte Lese- und Betrachtungsarten, im Zusammenwirken von Fotografie, Zeichnung und poetischem Text, vom Einzelblatt bis zum Buch, vom Buch mit leeren Seiten bis zum Buch der zeichnerischen Überfülle. Seriöse und blasphemische, alberne und philosophische, subversive und unverfängliche, komische und furchtbar ernste Arbeiten. Eine eigenständige und gewitzte Ausdrucksform von Kunst wird hier dokumentiert. Die kulturellen Regelverletzungen der Künstler werden offen gelegt, um jene Lust am Betrachten wie Lesen zu wecken, die Bildersturm, Sprachspiel und bewusste Verweigerung von sinnfälligen Botschaften  auslösen können. „Kreativität war unser Hauptsatz“, schreibt Thomas Günther, einer der Aktivisten der Szene, der diese Ausstellung auch besorgte, im Katalog. Unbestritten: Diese Szene hatte ihren Anteil am Zusammenbruch der DDR. War sie schon in den 80er Jahren in sich zerstritten, so löste sie sich nach der Wende auf. Jetzt diktierte der Kunstmarkt und der Künstler war wieder auf sich allein verwiesen.

poesie des untergrunds – Die Literatur- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989; 17.12.2011 bis 02.03.2012 Universitätsbibliothek Basel, danach in Frankfurt/Oder; Katalog: Edition Galerie auf Zeit, Berlin/New York 2011, 24,80 Euro.