von Wilfried Schreiber
Wer während des evangelischen Kirchentages im Sommer dieses Jahres in Dresden den Weg vom Schloss und der Semperoper stromabwärts schlenderte, gelangte an der Marienbrücke zu vier großen Festzelten, die den so genannten „Markt der Möglichkeiten“ beherbergten. Das ist jener traditionelle Teil des Kirchentages, wo Hunderte von ehrenamtlichen Gruppen ihr soziales, ökologisches und friedensbewegtes Engagement vorstellen können. Der aufmerksame Besucher stutzte an einem Stand, wo mehrere Uniformjacken der Bundeswehr auf Kleiderbügeln signalisierten, dass hier Berufssoldaten der Bundeswehr zu Wort kommen wollten – vorschriftsgemäß in Zivil. Sie machten mit einem großen Poster, das einen nackten Soldaten in der Pose des „Denkers“ von Rodin zeigte, auf sich aufmerksam. Um ihn herum waren Ausrüstungsgegenstände wie Helm, Schaftschuhe und Schutzmaske verstreut. Es handelte es sich um den „Arbeitskreis Darmstädter Signal – Das kritische Forum für Staatsbürger in Uniform“, der hier mit den Besuchern ins Gespräch kommen wollte. Das Erstaunen, auf dem Kirchentag aktive Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr zu treffen, die die Sicherheitspolitik der Regierung und die innere Entwicklung der Streitkräfte kritisch begleiten, wich der Verwunderung, dass es sich hier um eine der ältesten Nichtregierungsorganisationen der Bundesrepublik handelte. Das Gründungsmanifest dieser in der deutschen Militärgeschichte wohl einmaligen Organisation war ein friedenspolitischer Aufruf von 20 Angehörigen der Bundeswehr, mit dem sie sich am 24. September 1983 – unterschrieben mit Name und Dienstgrad – gegen den Nachrüstungsbeschluss der NATO zur Stationierung von Pershing 2-Raketen in der Bundesrepublik aussprachen. Sie benannten ihre Gruppe nach dem Ort, von dem aus sie ihr Signal an die Öffentlichkeit richteten.
Der Arbeitskreis will seitdem auf Fehlentwicklungen in der deutschen Sicherheitspolitik und der Bundeswehr aufmerksam machen. Er tut das vorwiegend mit Presseerklärungen sowie Vorträgen und Publikationen seiner Mitglieder – und regelmäßigen Auftritten auf den Kirchentagen. Die Schwerpunkte haben sich gewandelt. Aus vielen aktiven Soldaten wurden ehemalige. Inzwischen prägt eine neue Generation von Berufssoldaten den Arbeitskreis. Aus der Kritik an dem „NATO-Doppelbeschluss“ entwickelte sich die grundsätzliche Ablehnung aller Kernwaffen. Der Arbeitskreis engagiert sich für den absoluten Vorrang vorbeugender ziviler Konfliktlösungen, für die strikte Einhaltung des Verfassungs- und Völkerrechts, für Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, aber auch gegen alle Erscheinungen von Rechtsradikalismus und militaristischer Traditionspflege in der Bundeswehr. Nach dem Ende des Kalten Krieges orientierte sich die Kritik besonders auf die Ausweitung des Auftrags der Bundeswehr, die Beteiligung an internationalen Kampfeinsätzen sowie die Osterweiterung der NATO. In den Vordergrund trat das Ringen gegen eine deutsche Beteiligung am Irakkrieg und für die Beendigung des ISAF-Einsatzes in Afghanistan.
Dabei sind die Mitglieder des Darmstädter Signals keineswegs Pazifisten. Sie bejahen als Soldaten die Landesverteidigung und die Rolle der Bundeswehr als integrierten Bestandteil der Bündnisverteidigung. Sie stehen zum Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes und zum Gewaltverbot der UN-Charta. Ihre kritische Haltung begründen sie auch aus den eigenen Erfahrungen ihrer Teilnahme an den Auslandseinsätzen. Mit der gegenwärtig geplanten Bundeswehrreform stehen sie vor neuen Herausforderungen. Die Frage für sie ist: Wohin entwickelt sich die Bundeswehr der Zukunft? Seit langem engagiert sich der Arbeitskreis für die Abschaffung der Wehrpflicht und eine deutliche Verringerung des Personalbestands. Dieser Reformansatz des Ministers wird unterstützt. Sorge bereitet dem Arbeitskreis eher die Verwandlung der Bundeswehr in eine ständig präsente Interventionsstreitkraft zur Durchsetzung macht- und wirtschaftspolitischer Interessen sowie die innere Entwicklung der Bundeswehr als Berufsarmee. Die kritischen Soldaten befürchten, dass die Grundsätze der Inneren Führung und das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform gänzlich auf der Strecke bleiben und fordern daher die Einrichtung eines Beauftragten für Innere Führung beim Generalinspekteur der Bundeswehr.
Für das Selbstverständnis des Arbeitskreises ist wichtig, keiner politischen Partei zugeordnet zu werden. Die kritischen Soldaten wollen nicht in Verdacht geraten, von einer Partei instrumentalisiert zu werden. Die Gründungsmitglieder kamen zwar aus dem linkssozialdemokratischen Umfeld; inzwischen ist der politische Hintergrund des Arbeitskreises – und auch seiner Förderer – deutlich breiter geworden und steht sowohl der SPD als auch der grünen und der linken Partei nahe. Aber auch die Konflikte mit diesen Parteien haben zugenommen. So führte die Kritik des Arbeitskreises an der Entsendung der Bundeswehr zu den Kriegen in Jugoslawien und in Afghanistan durch die rot-grüne Regierung zu Differenzen mit einigen Angehörigen des Förderkreises und führte auch zu einem zeitweiligen Mitgliederschwund. Während die offizielle Politik der SPD und der Grünen dem Arbeitskreis zu bellizistisch geworden ist, ist ihm die Linkspartei zu pazifistisch. Trotz Übereinstimmung in vielen Punkten neigt der Arbeitskreis eher zu einer gewissen Distanz gegenüber den Linken – schon um wichtige Förderer nicht zu verlieren.
Die berufliche Einbindung in ein Machtorgan des Staates zwingt die Mitglieder des Arbeitskreises zu einem Drahtseilakt zwischen Loyalität und Konfrontation gegenüber ihren Dienstherren. Die Führung der Bundeswehr lehnte diese Gruppe von Anfang an ab und betrachtet sie eher als Nestbeschmutzer und Verräter denn als Demokraten und Staatsbürger in Uniform. Seit das Darmstädter Signal zum ersten Mal seine Stimme erhob, wurde es von den höheren Vorgesetzten ignoriert, verleumdet, beschimpft und seine Mitglieder mit Disziplinar- und Gerichtsverfahren verfolgt. Beispiele aus der jüngeren Zeit sind die Verfahren gegen Major Florian Paff, Oberstleutnant Jürgen Rose (inzwischen a.D.) oder Stabsfeldwebel Christiane Ernst-Zettl. Zu Ehren der Justiz sei hier gesagt, dass die Urteile der erstinstanzlichen Truppendienstgerichte von den Zivilgerichten meist wieder aufgehoben wurden.
Es ist wahrlich nicht einfach, hierzulande als kritisch denkender Soldat Gehör zu finden und in der Bundeswehr akzeptiert zu werden. Die Auseinandersetzung mit Vorgesetzten und Mainstream-Medien verlangt nicht weniger Mut als der Dienst am Hindukusch. In Deutschland verteidigen diese Soldaten die Demokratie und erfüllen sie mit Leben. Sie haben die alte Forderung von Willy Brandt aufgenommen, der dazu aufrief, mehr Demokratie zu wagen. Genau das wollen die aktiven und ehemaligen Soldaten des Arbeitskreises Darmstädter Signal tun. Als mündige Staatsbürger in Uniform verweigerten und verweigern sie sich daher auch der Forderung des ehemaligen Heeresinspekteurs Generalmajor Hans-Otto Budde, der 2004 den „archaischen Kämpfer“ zum Leitbild der Bundeswehr machen wollte.
Auf dem Kirchentag in Dresden wurde ihr Gesprächsangebot von vielen Besuchern dankbar angenommen. Kapitänleutnant Jörg Wiebach, seit 2009 Sprecher des Darmstädter Signals, stellte eine bis dahin nicht da gewesene Aufgeschlossenheit und Gesprächsbereitschaft fest. Insbesondere waren die Besucher an den Motiven und konkreten Vorschlägen der Soldaten interessiert. Dieses Interesse stand ganz im Gegensatz zur Haltung des Parlamentarischen Staatssekretärs im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt, der einen offiziellen Auftritt am unmittelbar benachbarten Stand der evangelischen Militärseelsorge absolvierte. Die Bitte, sich in einem kurzen Gespräch auch den Soldaten des Arbeitskreises Darmstädter Signal zu stellen, lehnte er ab. Die Gewissensprobleme der kritischen Soldaten spielten für ihn keine Rolle. Da kann man nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Herr Staatssekretär, zu diesen Soldaten muss man der Bundeswehr gratulieren.
An dieser Stelle sei noch ein Nachsatz gestattet: Ohne materielle Unterstützung wäre die Arbeit einer solchen deutschlandweit arbeitenden Gruppe nicht möglich. Besonderer Dank gebührt daher dem „Förderkreis Darmstädter Signal“, der nunmehr seit 25 Jahren für die finanzielle Grundlage der kritischen Soldaten sorgt. Das sind zirka 200 Personen des öffentlichen Lebens, Wissenschaftler, Kirchenvertreter, Künstler, Politiker. Darunter auch Bundestagsabgeordnete der SPD, der Bündnisgrünen und der Linkspartei. Sie vertreten nicht immer die Auffassungen der kritischen Soldaten und stehen im Bundestag oft auf unterschiedlichen Seiten. Über eines sind sie sich aber einig: Der „Arbeitskreis Darmstädter Signal“ ist Teil des demokratischen Systems der Bundesrepublik und verdient ihre Hilfe. Vor allem verdient er mehr Gehör in der Öffentlichkeit – und auch ein paar neue Fördermitglieder.
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