von Kai Agthe
Die Betrachtung der Sammlung mit Aufnahmen aus Merseburg und Umgebung, die der heute in Halle lebende Fotograf Jochen Ehmke zwischen 1970 und 1995 aufnahm, ist bedrückend. Ähnlich wie bei den jüngst im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Leipzig-Fotobänden von Norbert Vogel und Thomas Steinert fragt man sich beim Anschauen der größtenteils zu DDR-Zeiten gemachten Aufnahmen, wie man es nur in derartigen Zuständen ausgehalten hat. Auch wenn die Fotos von Ehmke in Schwarz-weiß und nicht in Farbe aufgenommen sind, ist die alles beherrschende Farbe in Merseburg doch nur ein facettenreiches Grau gewesen. In noch stärkerem Maße als in Leipzig war die historische Altstadt im benachbarten Merseburg dem Verfall preisgegeben. Jochen Ehmkes Aufnahmen aus dem Merseburger Zentrum im Allgemeinen und der Gotthard-Straße im Speziellen belegen das eindrucksvoll. Ein anderer Grund für den maroden Zustand der Stadt vor 1989 war die Nähe der Chemischen Kombinate Leuna und Buna, die zu den größten Dreckschleudern der DDR-Industrie zählten. Deshalb galt im Umfeld der Werke: Ostwind = Waschwind. Ein körniges Foto von 1980 ist der Beleg. Ein echter Chemiearbeiter-Ort war Merseburg aber nur bedingt. Denn für diese wurde auf Beschluss der Staatspartei die Satellitenschlafstadt Halle-Neustadt aus dem Boden gestampft.
Der Wahl-Hallenser Jochen Ehmke wurde 1936 in Chemnitz geboren, studierte Werkstofftechnik und wissenschaftliche Fotografie in Berlin, war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergakademie Freiberg und kam als TKO-Leiter zum VEB Aluminium Merseburg. Später war er freischaffend tätig und ist seit 1994 Lehrbeauftragter für Fotografie an der Hochschule Merseburg. Apropos: Das studentische Leben des Jahres 1985 ist mit einem jungen, aber für DDR-Verhältnisse repräsentativen Paar und dessen beiden Kindern vertreten. Dazu kommen noch zwei Aufnahmen aus dem Kindergarten der Hochschule. Mehr gab das Thema nicht her. Denn die bis zu 5000 Studenten lebten seinerzeit auf dem Campus neben, nicht mit den Einwohnern. „Kein studentisches Flair im grauen Alltag Merseburgs.“ Die Begleittexte Jochen Ehmkes sind erfreulicherweise ebenso lakonisch wie kritisch.
Das im Titel verheißene Datschenglück vermisst man in dem vorliegenden Bildtextband aber. Den Knochenjob hingegen hat Ehmke festgehalten: Das war die Arbeit im Braunkohletagebau Merseburg-Ost. Zwei Gleisarbeiter mit Brechstangen, die dort 1985 tätig waren, haben es sogar auf den Titel des Fotobuches geschafft. Eine junge Frau, die daselbst und in besagtem Jahr auf einem Bagger arbeitete, wirkt wie aus einem Gemälde der italienischen Renaissance entsprungen. Mag sie auch wie eine Madonna erscheinen, so war sie doch Klappenschlägerin. Ein hinreißendes und also kontrastreiches Bild zu den anderen Tagebaufotos ist das allemal.
Die Zeitenwende 1989/90 ist mit mehreren Bilderfolgen eingefangen: Ausreisewillige, die 1989 auf gepackten Koffern sitzen, diverse Veranstaltungen im Herbst desselben Jahres und Merseburger, die am Tag nach Schabowskis legendärer Pressekonferenz Anträge für Reisen in das westliche Ausland ausfüllen. Am Ende steht ein kleiner Zyklus mit Aufnahmen des 1991 von den GUS-Streitkräften geräumten Flugplatzes Merseburg. Wurden die Hangars zum Zwecke der Tarnung vorsätzlich begrünt, so sprießt zwischen den Fugen der aus Betonplatten gefügten Landebahn am Anfang der neunziger Jahre das Grün eher in anarchistischer Absicht.
Jochen Ehmke: Knochenjob und Datschenglück. Fotografien 1970-1995. Mit einem Vorwort von Helmut Brade, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2011, 144 Seiten, 24,00 Euro
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