von Anne Dresden
Wie weit würden Sie gehen, um sich einen Traum zu erfüllen? Ralf-Thomas Hillebrand, der in Berlin lebt, aber auf den Weltmeeren zu Hause ist, hatte vor zwei Jahren für sich die Antwort gefunden: Er reichte, weil ihm „die Verschiebung des Horizonts mehr wert war als ein sicherer Job“, seine Kündigung ein, um mit seiner Segelyacht einhand, also allein, von Stralsund entlang der Küste Norwegens bis ins russische Murmansk und zurück zu fahren. Eine Reise, die sechs Monate beansprucht und für die man, wenn man angestellt ist, keinen Urlaub erwarten kann. Hillebrand machte also Nägel mit Köpfen und sich Ende April 2008 auf den Weg zum nördlichen Polarkreis und mit der Mitternachtssonne bis weit hinauf in arktische Gefilde. In den hohen Norden trug ihn seine 1968 gebaute Neun-Meter-Stahlyacht „Bombadil“, die der Skipper nach einer Figur aus Tolkiens „Herr der Ringe“ benannt hat.
In Norwegen besuchte Hillebrand, der gesteht, süchtig danach zu sein, viele Museen und kam auch stets mit den Einheimischen ins Gespräch. Denn Norweger sind ebenso kontaktfreudig wie hilfsbereit. Deren Unterstützung musste er des Öfteren in Anspruch nehmen. Und zum Glück verfügen die Norweger auch über die angenehme Eigenschaft, unkompliziert zu sein. Das wusste er zu schätzen, als der betagte Bootsmotor auf der Rückreise endgültig den Geist aufgab. Anders in Russland: Als er auf der Hinfahrt das Ruderblatt verliert, kostet es mehrere Tage und wegen der Bürokratie unzählige Nerven, bis er in Murmansk ein neues Ruderblatt bauen lassen kann. Und um den Arktikhafen überhaupt erreichen zu können, musste er sich mit seiner manövrierunfähigen Segelyacht von der russischen Küstenwache bergen lassen.
Dem gegenüber steht das Erleben der noch unberührten Küstenlandschaft Norwegens mit ihren Schärengärten und Fjorden sowie ihrer reichen Meeresfauna. Im Atlantik kann der Segler Grind- und Pottwale beobachten; auch ein Orca taucht einmal auf und wiederholt Schulen von Schweinswalen, die mit Glück auch in der Ostsee gesichtet werden können. Und das alles im Licht der Mitternachtssonne, die dafür sorgt, dass halb Norwegen nachtaktiv ist.
In seinem Buch wechseln die Kapitel, in denen er von seiner Reise berichtet, mit Geschichten aus der Seefahrt, die sich in jenen Regionen zugetragen haben, die Hillebrand befährt. Fakten und Fiktion vermischend, erzählt er u.a. von dem Hildesheimer Seefahrer Didrik Pining, der 1472, also 20 Jahre vor Kolumbus, Amerika erreicht haben soll, von den letzten Stunden des mit 2000 Mann Besatzung fahrenden und 1944 versenkten Schlachtschiffs „Tirpitz“ und von dem Versuch, im 16. Jahrhundert einen nördlichen Seeweg nach China zu finden.
Nach sechs Monaten auf See, erfreut Hillebrand am Ende nichts so sehr wie der Anblick von Rügen. Doch kaum zurück in der Heimat, ist ihm klar, dass er bald wieder hinaus muss, weil ihm seine Horizont-Erweiterung mehr wert ist als das abgesicherte Leben im Binnenland.
Ralf-Thomas Hillebrand: Im Süden der Polarkreis. Einhand nach Murmansk, Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2010, 255 Seiten, 19,90 Euro
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