14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Merde

von Hans-Peter Götz

Kann man ein ganzes Buch, eins mit akademischem Anspruch, aber zugleich unterhaltsam, über Exkremente schreiben? Florian Werner hat mit „Dunkle Materie …“ die Probe aufs Exempel gemacht, und die beginnt mit einem Flop: An den Anfang seiner Geschichten und Reflexionen setzt der Autor eine Prämisse, die zwar auf den ersten Blick plausibel klingt und von kulturhistorischem Gewicht scheint, die sich jedoch spätestens beim nochmaligen Lesen als effekthascherisches Windei entpuppt: „Die menschliche Kultur gründet auf der Scheiße. Nicht nur, weil unsere Städte, als Inbegriff der neuzeitlichen Zivilisation, sich über gigantischen Abwassersystemen erheben. Nicht nur, weil unser Stoffwechsel, mithin das Leben selbst, ohne die Ausscheidung von Exkrementen gar nicht möglich wäre. Sondern weil wir erst durch die Abgrenzung von der Scheiße wissen, was Kultur überhaupt ist.“ Kultur, ja Hochkultur, und das Wissen darum gab es auch schon in Perioden der Menschheitsgeschichte, als die Fäkalien der städtischen europäischen Zivilisation noch im Wortsinne durch die Straßen schwappten – wenn man etwa nur an Renaissance, Barock und nachfolgende Jahrhunderte denkt.
Es wäre jedoch ein Fehler, Werners Buch nur deswegen wegzulegen, weil den Autor am Anfang seines Elaborats etwas der pseudointellektuelle Hafer stach, denn was er im Folgenden zusammengetragen hat, ergibt nachgerade eine Enzyklopädie, die viele Sachgebiete streift – Werners Kollegin Pieke Biermann zählte die folgenden: Biologie, Chemie, Physiologie, Psychologie, Geschichte, Politik, Linguistik, Ökonomie, Ökologie, Parfümologie, Philosophie, Religion, Künste, Alltagsleben und Sprache. Ekelgefühle kommen im Übrigen beim Lesen schon deswegen kaum auf, weil auch dieses Buch quasi mit jeder Seite die Wahrhaftigkeit eines Satzes beweist, den Roland Barthes geprägt und Werner zitiert hat: „Geschrieben stinkt Scheiße nicht.“
Im Verlaufe seiner überwiegend ernsthaften Ausführungen beantwortet der Autor nicht zuletzt eine ganze Reihe von eher heiter-frivolen Fragen, die alle in einer einzigen Rubrik zusammengefasst werden könnten: „Was wir schon immer wissen wollten, uns aber nie zu fragen trauten.“ Ein paar Kostproben:
– Warum müssen tragische (und, so wäre zu ergänzen, strahlende) Helden in Theaterstücken oder Spielfilmen (und, auch das wäre zu ergänzen, in der Literatur) nie aufs Klo, und warum leiden komische Figuren häufig unter Leibschmerzen, Blähungen oder Durchfall?
– Warum wird – wiederum im Theater, im Film und in der Literatur – in die Sphären der Verehrung entrückten Frauen keine nach außen erkennbare Darmtätigkeit zugestanden? (Wie dicht Erhabenheit und Lächerlichkeit gleichwohl beieinander liegen, hat der italienische Futurist Filippo Tommaso Marinetti vorgeführt, als er dem mystischen, entrückten Lächeln der Mona Lisa eine sehr irdische Interpretation gab, indem er die Schöne mit einem Attribut versah: La Gioconda purgativa – zu gut deutsch „die (nach unterstelltem prächtigen Stuhlgang vom Darmdruck) befreit Lächelnde“. Wem unter den Kunstfreunden dieser Scherz allerdings zu blasphemisch ist, für den sei zum Trost darauf verwiesen, dass Marinetti außer Futurist auch Kulturminister unter Mussolini war – also ein rechter Scheißkerl.)
– In welcher schwäbischen Stadt und warum ließ die örtliche Volksbank eine Skulptur aufstellen, die ganz offiziell den Namen „Geldscheißer“ trägt?
– Warum ist Bullshit eine Vokabel, die besonders gern von Alpharüden (wie dem Ex-Chef von DaimlerChrysler, Jürgen Schrempp) benutzt wird?
– Und worauf führte Goethe die Leiden seines wohl berühmtesten Romanhelden in seinem Gedicht „Nicolai auf Werthers Grabe“ zurück?
Besonders zu empfehlen zur Lektüre sei Werners Kompendium übrigens Philipp Rösler. Der hatte anlässlich seiner Wahl zum FDP-Chef auf dem jüngsten Parteitag seiner gelben Truppe getönt: „Ab heute wird die FDP liefern.“ Geliefert hat sie bisher nichts, was ihre politische Glaubwürdigkeit zu erneuern und ihren Absturz in die Bedeutungslosigkeit aufzuhalten geeignet schiene. Bei Werner ließe sich finden, woran es der FDP gebricht – zündende konzeptionelle Ideen. Und die Partei könnte dabei sogar bei ihrem Leib- und Magenthema – Steuern – bleiben, denn Werner erinnert unter anderem daran, dass der 1871 verstorbene französische Philosoph Pierre Leroux die revolutionäre Idee hatte, dass die Bürger ihre Exkremente sorgfältig sammeln und dem Staat anstelle von Steuern übergeben sollten. Denn: „Der landwirtschaftliche Ertrag würde sich sofort verdoppeln, und das Elend verschwände vom Angesicht der Erde.“ Dass Leroux Sozialist war, sollte die FDP nicht stören, denn tote Sozialisten sind allemal gute Sozialisten.
Und auch eine Empfehlung für Eltern heranwachsender Söhne, die sich mit der Berufswahl schwer tun, lässt sich bei Werner finden – Kanalarbeiter. Zumindest spricht, was der Engländer Edward D’Anson 1848 in einem Bericht für die Londoner Kanalkommission vermerkte, nicht dagegen: Die in den Abwasserschächten beschäftigten Arbeiter seien allesamt „kräftige, robuste Männer“, welche dank ihrer Arbeitsbedingungen im Reizklima der Kanalisation eine höhere Lebenserwartung hätten als der Bevölkerungsdurchschnitt.
Um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen und um zugleich ein Fazit zu ziehen: Man kann durchaus.

Florian Werner: Dunkle Materie – Die Geschichte der Scheiße, Nagel & Kimche, München 2011, 239 Seiten, 18,90 Euro