14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Kultur des Teilens

von Friedrich Dolphy

Von Zeit zu Zeit haben die Schimpansen in Westafrika Appetit auf fleischliche Kost, und sie versuchen, einen Stummelaffen zu erlegen. Sie veranstalten dann spontan eine regelrechte Treibjagd, die damit beginnt, dass ein Mitglied eines Schimpansentrupps einen Stummelaffen auf einen Baum scheucht. Unterdessen erklimmen die anderen Jäger von mehreren Seiten den Baum, um dem Opfer den Fluchtweg abzuschneiden. Wenn der Stummelaffe schließlich zur Strecke gebracht worden ist, denken die Schimpansen nicht im Traum daran, die Beute gerecht unter sich aufzuteilen. Stattdessen erhält jeder Einzelne so viel, wie er ergattern kann. Wie viel er jeweils zum Erfolg der Jagd beigetragen hat, spielt nicht die geringste Rolle.
Dass Schimpansen ihren Artgenossen freiwillig etwas abgeben, erklärt der Wissenschaftsjournalist Stefan Klein, kommt nur äußerst selten vor. Selbst die Mütter zeigen sich knauserig, wenn ihr eigener Nachwuchs bei ihnen um Nahrung bettelt, und wenn sie überhaupt etwas herausrücken, dann handelt es sich in der Regel um minderwertige Stücke. Nicht der Mensch, behauptet Klein, verhält sich so, wie es der Homo oeconomicus angeblich tut, sondern der Schimpanse.
Schimpansen tun sich zwar schwer damit, ihre Handlungen aufeinander abzustimmen und die Verteilung der gemeinschaftlich erbeuteten Nahrung einigermaßen fair zu regeln, Wenn es die Umstände allerdings erfordern, können sie sehr fürsorglich miteinander umgehen. So bilden die Schimpansen im Taï-Nationalpark (Elfenbeinküste) eingeschworene Gruppen, die ihnen Schutz bieten gegen die ständigen Angriffe der Leoparden. Wird ein Mitglied einer Gruppe im Kampf gegen die Raubkatzen verletzt, kümmert man sich um seine Wunden und pflegt es in schlimmeren Fällen wochenlang. Kommt jedoch eine Schimpansen-Mutter ums Leben, nehmen sich ihre Geschwister oder auch nicht zu ihrer Familie Gehörende des Nachwuchses an und adoptieren ihn.
Klein hält die Taï-Schimpansen zwar für begabte Sanitäter und Kinderbetreuer. Er beharrt aber darauf, dass sie dafür nicht sonderlich viel Selbstbeherrschung benötigen würden und dafür nicht imstande sein müssten zu ergründen, was in den Köpfen ihrer Artgenossen vor sich geht.
Bis vor kurzem hat man die Kooperation als ein Phänomen aufgefasst, das im Tierreich weit verbreitet ist. Und man hat angenommen, dass Tiere kooperationswillig sind, weil sie, geleitet vom Prinzip des „do ut des“, miteinander ständig Gefälligkeiten und Nahrungsmittel austauschen. Doch mittlerweile hat sich herausgestellt, dass diese Auffassung grundfalsch ist. Vielmehr deuten etliche Befunde darauf hin, dass Tiere nicht dazu neigen, miteinander zu kooperieren und Ressourcen miteinander zu teilen, weil sie nicht imstande sind, sich in ihre Artgenossen hineinzuversetzen und sich daran zu erinnern, wer ihnen wann welchen Gefallen getan hat. Hingegen ist der Mensch laut Klein das Wesen, das die Evolution darauf programmiert hat, sich in vielen Situationen freigebig und selbstlos zu verhalten und sich ganz in den Dienst der Gruppen zu stellen, denen es sich zugehörig fühlt.
Klein vermutet, dass die Frühmenschen in den extrem harten und gefährlichen Verhältnissen der Savanne nur überleben konnten, indem sie sich beizeiten eng zusammenschlossen und sich auf die kollektive Großwildjagd und auf die kollektive Kinderaufzucht verlegten. Dadurch sei ein Überfluss an Zeit und Lebensmitteln entstanden, der eine erhebliche Steigerung der Intelligenz nach sich gezogen und den soziokulturellen Fortschritt überhaupt erst ermöglicht habe.
In Kleins Augen gibt es eine Fülle von Indizien, die dafür sprechen, dass die Disposition zu altruistischem und solidarischem Verhalten in den menschlichen Erbanlagen steckt. So schüttet das Gehirn von Menschen, die sich um das Wohlergehen anderer kümmern, Opioide und Oxytocin aus – euphorische Stimmungen auslösende Hormone, die die Bereitschaft erhöhen, emotionale Bindungen einzugehen, und die außerdem chronischem Stress entgegenwirken.
Durch die funktionale Kernspintomografie ist zutage gekommen, dass die Schaltkreise im Gehirn, die für sexuelle und kulinarische Lustgefühle zuständig sind, auch dann aktiv sind, wenn Menschen Menschen unterstützen.
Es hat sich außerdem herausgestellt, dass das Belohnungssystem auf Hochtouren läuft, wenn die Mitglieder eines Teams die Erfahrung machen, dass es sich für sie auszahlt, miteinander zu kooperieren. Außerdem weiß man mittlerweile, dass Menschen ein Gefühl für soziale Gerechtigkeit angeboren ist und dass ihre Spiegelneuronen sie zu Virtuosen der Empathie machen. Klein betont aber, dass Egoismus und Gier nicht weniger starke Triebkräfte des Menschen seien – und dass Altruismus nicht selten in fanatischen Hass auf diejenigen umschlagen würde, die außerhalb der eigenen Gruppe stehen.
Die Zukunft, prophezeit Klein, wird den Altruisten gehören. Wissen, das heute schon zum wertvollsten Produktionsmittel geworden sei, begünstige nämlich eine Kultur des Teilens, Denn wer über Wissen verfüge, könne es der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung stellen, ohne selbst einen Verlust zu erleiden. Dann wäre dieses Wissen allerdings kein Kapital mehr, mit dem sich Profite erwirtschaften ließen. Wie das funktionieren soll, bleibt bei Klein ein Mysterium. Trotzdem: Eine exzellente, Untersuchung der neurobiologischen Grundlagen des menschlichen Altruismus, die ohne jeden Fachjargon auskommt.

Stefan Klein: Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011, 335 Seiten, 18,95 Euro