14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Hellas – Blick hinter die Kulissen

von Horst Möller

Obwohl Griechenland nun so ins Gerede gekommen ist, darf die Faszination, die vom Land und seinen Leuten ausgeht, getrost als unkaputtbar gelten. Zu dieser Gewissheit verhilft der jeder Schwärmerei abholde Insiderblick, an dem – nach zahlreichen, seit Jahren regelmäßig vorgelegten erhellenden Einzelstudien – hier Eberhard Rondholz in einer längst von ihm erwarteten Zusammenschau teilhaben lässt. Was läuft da seinem Urteil nach in den deutsch-griechischen Beziehungen eigentlich falsch? Beim Athenbesuch im Januar 2010 mahnte Außenminister Guido Westerwelle (der seinen Dr. jur. in Bonn beim Staatsrechtler Dimitris Tsatsos gemacht hat) die Einlösung eines griechischen Kaufversprechens aus dem Jahr 2000 an: 60 Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter zum Preis von zwei Milliarden Euro. Außerdem stehen zur Verhandlung: sechs Fregatten vom Typ FREMM im Wert von zwei Milliarden, sechs U-Boote des Typs U214 für rund drei Milliarden und ähnliches mehr. Dazu Rondholz: „Es ist eine absurde Situation: Deutsche und französische Politiker drängen zu Käufen von Waffen, die zwei Nato-Partner (Türkei und Griechenland) aufeinander richten, und das, obwohl sie einerseits über den drohenden Staatsbankrott Griechenlands informiert sind und es andererseits strikte Regelungen gibt, nach denen aus Deutschland Waffen exportiert werden dürfen: eben nicht in politische Spannungsgebiete, wie es die Ägäis de facto allemal eines ist.“ Dass dieser Irrsinn den griechischen Steuerzahler umtreibt, das sollte auch den eigentlich nicht weniger davon betroffenen deutschen Steuerzahler aufbegehren lassen, denn in beiden Fällen bietet die Wirtschaftskraft des eigenen Landes mehr, als für ihn herausspringt.
Nach Eberhard Rondholz´ Angaben verfügen die griechischen Reeder über eine Handelsflotte von 55 Millionen Bruttoregistertonnen, was 70 Prozent der gesamten EU-Handelsschifffahrt und ein Fünftel der globalen Tonnage ausmacht und sich in der griechischen Zahlungsbilanz niederschlägt. Die Fischzucht in Aquakultur ist mittlerweile eine Industrie mit enormen Zuwachsraten, Griechenland ist Selbstversorger, was bestimmte zuchtfähige Fischarten angeht, und zugleich größter Exporteur. Was Rondholz zudem über Spitzenweine und exquisites Olivenöl Marke Hellas wissen lässt, hat gut und gern als Geheimtipp zu gelten. Hingegen sind die aufgezeigten Schattenseiten jene, die man auch von anders woher kennt. Die Rede ist von Leuten, die gegenüber dem Finanzamt ihr Einkommen an der Armutsgrenze beziffern und durch einen Wohlstand auffallen, der sich disproportional zu den bezogenen Gehältern verhält. Die Art und Weise, wie sich Teile der politischen Elite in den letzten Jahrzehnten bereichert haben, rieche nach Mafia und Politkriminalität – so das ernüchternde Resümee. Wie anhand der wenig lustigen aufgeführten Beispiele zu erfahren ist, steht einem ausgeprägt investigativen Journalismus leider leider ein deprimierend lahmer Justizapparat gegenüber.
Angesichts der aus der konfliktreichen Vergangenheit herrührenden tiefen Gräben im Volk überrascht dann doch im Kapitel Griechen gegen Griechen – Exkurs über den Bürgerkrieg der Schlusssatz: „Es gibt eine große Bereitschaft zur Versöhnung.“ Unabgegolten bleibt indessen, womit Deutschland nach wie vor in der Schuld steht, unter anderem mit der „Rückzahlung eines Zwangskredits, den die Besatzungsmacht Deutschland im Zweiten Weltkrieg den Griechen abgepresst hat“ –nach heutigen Berechnungen etwa 20 Milliarden Euro. Dass darüber hinaus die bundesdeutsche Justiz hinsichtlich der Kriegs- und NS-Verbrechen Täterschutz übte, und zwar mit fatalen Spätfolgen, wird von Rondholz hier nicht zum ersten Mal angesprochen – aus ungutem Grund, wie folgendes Addendum veranschaulicht: Für Alfred Eickworth, der auf Karpathos beim Versuch, zur Befreiungsfront überzulaufen, am 29. November 1943 von einem deutschen „Kameraden“ erschossen wurde, war in seinem sächsischen Heimatort Crimmitschau-Gablenz eine Straße benannt und ein Denkmal aufgestellt worden. Beides ist nach der Wende 1989 dort verschwunden, wohingegen das von griechischen Patrioten auf Karpathos für ihn errichtete Grabmal auch weiterhin gepflegt wird.
Wie anderswo in Europa auch ist neuerdings – und bei sich zuspitzender Wirtschafts- und Finanzkrise womöglich dauerhaft – im Athener Parlament eine rechtsradikale Partei vertreten. Sich deren Hetztiraden von einer gegen Griechenland gerichteten Verschwörung des weltweit agierenden jüdischen Finanzkapitals zu bedienen, wie das Mikis Theodorakis* – gewissermaßen einem Anti-Herostratos gleich – unternommen hat (um den Volkszorn zum Kochen zu bringen oder weshalb auch immer), quittiert Rondholz rechtens mit Unverständnis. Unerwähnt zu lassen, dass sich Theodorakis nachträglich erklärt und gegen jede Form von Antisemitismus ausgesprochen hat, und ihn als „Musik-Ikone“ (à la Michael Jackson?) in einen Zusammenhang zu bringen mit dem notorischen Holocaust-Leugner Plévris und denen, die ungehindert Hitlers Mein Kampf in griechischer Übersetzung verkaufen, das verschiebt allerdings die Optik dann doch gewaltig.
Das Buch verdiente nicht den Untertitel Ein Länderporträt, wenn es sich auf die – in herkömmlichen Reiseführern zumeist ausgesparten – aktuellen Bezüglichkeiten beschränkte. Eine Fülle von Details zur Landes-, Parteien-, Kirchen-, Sprach-, Literatur-, Architekturgeschichte usw. usf. sowie, gleichsam als roter Faden, zu den deutsch-griechischen Befindlichkeiten gewährt einen fundierten, von billigen Vorurteilen freien, dringendst gefragten zeitgemäßen Gesamtüberblick.

Eberhard Rondholz: Griechenland. Ein Länderporträt, Ch. Links Verlag, Berlin 2011, 200 Seiten, 16,90 Euro

* – Im Folgenden die erwähnte Erklärung von Mikis Theodorakis:

An das Zentralkomitee der Jüdischen Vereinigung in Griechenland, zu Händen von Herrn David Saltiel

Liebe Freunde,
ich lese im Internet Ihre Mitteilung über das durch den Präsidenten des österreichischen Parlaments angeordnete Verbot, meine Vertonung der Mauthausen-Gedichte von Iakovos Kambanellis während einer Gedenkveranstaltung zu Ehren der Naziopfer hören zu lassen.
Darf ich Sie fragen: Weshalb trachten Sie danach, mich unbedingt zu einem Judenfeind zu machen? Weshalb können Sie nicht wahrhaben, dass ich das lebende Symbol für jede Art von Antirassismus und selbstverständlich auch für Antisemitismus bin?
Millionen in Israel wissen ganz genau, wie sehr ich ihr Land und ihr Volk liebe, und sie wissen das nicht nur aufgrund  der Mauthausen-Kantate, die überall auf der Welt als Hymnus auf das leidvolle Schicksal der Juden verstanden wird.
Lassen Sie mich mit der Besatzungszeit unter den Deutschen beginnen, als ich als Mitglied der Volksbefreiungsarmee (ELAS) in Athen an der Bewachung von Unterkünften beteiligt war, in denen sich jüdische und andere meiner Mitkämpfer versteckt hielten, deren Personenschutz uns aufgetragen worden war. Ich erinnere an die 70er Jahre, als wir, meine Sänger, mein Orchester und ich, als Erste und Einzige es unternahmen, die Blockade zu überwinden, die Europa damals gegen Israel verhängt hatte. Einen Monat lang gaben wir damals täglich zwei, manchmal sogar drei Konzerte vor einem Publikum, das beinahe nicht mehr wusste, auf welche Weise es noch seine Liebe und Dankbarkeit ausdrücken sollte. Mich persönlich kam das teuer zu stehen, weil daraufhin von der europäischen Linken eine Kampagne gegen mich als angeblichen Agenten des Zionismus entfacht worden ist!!!
Hintergrund waren meine Bemühungen um friedliche Koexistenz zwischen Juden und Palästinensern, da ich ein Memorandum des damaligen stellvertretenden israelischen Ministerpräsidenten Allon an Arafat überbracht hatte. Später sind diese Bemühungen dadurch offiziell gewürdigt worden, dass man während der feierlichen Übergabe des Nobelpreises an Jitzchak Rabin und Arafat die Mauthausen-Kantate spielte.
Weshalb also wollen Sie in mir Ihren Feind sehen, obwohl Sie doch offenkundig wissen, dass ich ein Freund des jüdischen Volkes war und ein Freund des jüdischen Volkes bin?
Ich will Ihnen sagen, warum: Weil ich ein fanatischer Gegner jeglicher Art von Willkür, Gewalt und Hass bin, gleichgültig wer der Verursacher ist. Ich stehe und werde immer auf Seiten der Rechtlosen und Schwachen stehen – der Palästinenser, der Frauen und Kinder des Libanon, des abgeriegelten Gaza – gegen die Allmacht und Arroganz des Staates Israel mit seiner andauernden, Tod und Verderben bringenden Gewaltpolitik, ohne dass ich die Zivilbevölkerung damit gleichsetze.
Dies ist für alle jene Juden, die die Gräueltaten der jeweiligen Regierungen des Staates Israel billigen, eine widerwärtige Wahrheit. Ich kenne persönlich hunderte Juden in Israel und bin mit ihnen verbunden, die fanatische Friedensanhänger sind und gegen ihre eigenen Regierenden und die Militärs kämpfen.
Also lassen wir doch die propagandistischen Mätzchen sein, mittels derer man mich zum Zionisten stempeln will! Wieso sagen Sie mir nach, ich hätte geäußert, dass „die Juden die Wurzel des Übels sind“, oder die noch zugespitztere Formulierung irgendwelcher anderer Leute, dass „die Juden die Wurzel allen Übels sind“, eine überaus bösartige Verleumdung. In Wirklichkeit habe ich in meinem Interview über die Rolle der USA gesagt, dass deren Politik meiner Meinung nach ihre schärfste imperialistische Phase mit den Kriegen und Völkermorden im Irak und in Afghanistan durchmacht, und ich habe gesagt, dass der Staat Israel leider die USA dabei unterstützt, deren gegenwärtige Außenpolitik die Wurzel des Übels ist, und sich folglich nahe der Wurzel des Übels positioniert.
Man warf mir neuerlich vor, zugegeben zu haben, ein Antisemit zu sein. Das hat ziemlichen Wirbel verursacht. Wie lautete jedoch exakt meine Äußerung im Fernsehinterview? „Ich muss indessen klarstellen, dass ich ein Antisemit bin. Ich liebe nämlich das jüdische Volk, ich liebe die Juden, ich habe viel mit ihnen gemeinsam erlebt, aber so wie ich den Antisemitismus hasse, so hasse ich auch den Zionismus.“
Wenn man dieses Zitat im Ganzen liest und nicht nur die Verkürzung, die im Internet kursiert, versteht dann einer, der nicht gehirnamputiert ist, dass nach einem zweistündigen strapaziösen Fernsehinterview die Vokabel „Antisemit“ unzweifelhaft ein Versprecher war, denn wie kann jemand ein Antisemit sein, der danach klar und deutlich sagt, dass er das jüdische Volk und die Juden liebt und den Antisemitismus hasst? Mag es sein wie es will, meine Feinde sind auf diesen „Fall“ gestoßen, auf den zu stoßen sie schon lange gelauert haben. Sie indessen?

Athen, 9.5.2011
Mikis Theodorakis