von Ulrike Krenzlin
Landesausstellungen sind heute Events, von denen man Überraschungen erwarten darf. Sachsen-Anhalt steht mit derartigen interdisziplinären Projekten ganz vorn. 2009, bei der Jubiläumsausstellung zum Magdeburger Dom „Aufbruch in die Gotik“, kam es zum Skandal. Die Landesregierung in Magdeburg wies alle Vorwürfe der Pietätlosigkeit zurück, als die im Dom in einem Bleisarg gefundenen Gebeine Edithas, Gemahlin Kaiser Ottos I., auf ihre Echtheit hin untersucht werden sollten. Die Knochen des Leichnams der Königin wurden nach England ausgeliehen, wo Labore auch jahrhundertealte Fälle kriminaltechnologisch auf international höchstem Stand untersuchen können. Die königlichen Gebeine erwiesen sich tatsächlich als echt.
Dass die Landesausstellung 2011 „Der Naumburger Meister – Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen“ keine geringfügigere Angelegenheit verhandelt, ist schon angesichts der beiden Schirmherren ersichtlich: für Frankreich haben Staatspräsident Nicolas Sarkozy, für Deutschland Bundeskanzlerin Angela Merkel die Schirmherrschaft übernommen.
Naumburg hatte im Heiligen Römischen Reich höchste Bedeutung für den Prozeß der Christianisierung bis an seine Ostgrenze, die Elbe bei Magdeburg. Daher ist einer der größten Bauhüttenmeister des 13. Jahrhunderts, Architekt und Bildhauer, mit Notnamen Naumburger Meister in die Bischofsstadt berufen worden zur Vollendung des Domes St. Peter und St. Paul mit dem weltbedeutenden Memorialbau im Westchor. Das Oeuvre des Naumburger Meisters lässt sich zuerst an den Kathedralen von Reims und Noyon, in der Il-de-France und in der Picardie nachweisen. Danach verlässt der Meister das französische Königreich. Unter König Ludwigs dem Heiligen und der Französischen Hochscholastik ist diese hohe Ausdruckskunst ideell und künstlerisch geformt worden. Mit seinen Erfahrungen wanderte der Meister mit seiner Hütte, zu der Bildhauer, Maler und Bleiglasmaler gehörten, weiter nach Mainz, Basenheim, Naumburg und Meißen. An diesen Orten wurde er zu großen Aufträgen verpflichtet. So weit so gut.
Ein Streit schwelt bis heute bei vielen Autoren um die Herkunft des anonymen Künstlers. Ist der Naumburger Meister Franzose oder Deutscher? Entzündet hat ihn die deutsche Kunstwissenschaft im Ersten Weltkrieg am Beispiel der königlichen Burg Coucy im Pays de Laon, ein Großprojekt der Festungsbaukunst des 13. Jahrhunderts. Seine bildhauerische Ausstattung von 1225 war ein früher Beleg für den neuartigen Bildhauerstil des Meisters mit scharf in den Stein geschnittenem Blattwerk, mit beseelten Figuren, berührenden Gesten, schönen Menschenbildern, denen sich keiner entziehen kann. Zur Burg gehörte ein 60 Meter hoher Donjon, ein Wohnturm mit 31 Metern Durchmesser. Er ist auf Befehl der deutschen Heeresleitung nach dem Beschuss von Reims gesprengt worden. In der Ausstellung läuft ein Dokumentarfilm, der die Sprengung von Coucy am 27. März 1917 fortlaufend zeigt. Der große französische Kunsthistoriker Emile Male schrieb anlässlich der Sprengung 1917: „Es reichten wenige Augenblicke aus, um diese Vergangenheit in Gänze auszulöschen…Sie haben uns arm gemacht…“. 2011 sind erstmals von Frankreich Reste dieser niederschmetternden Zerstörung als Leihgaben nach Naumburg gegeben worden. Der Verfasser von L’Art allemand et L’Art francais de Moyen Age hat in seiner zweiten, in Paris 1918 erschienenen Auflage die französische mittelalterliche Kunst in ihrer Eigenart streng von der deutschen Kunst geschieden. Diese virtuelle Trennung blieb bis heute bestehen. Der Naumburger Meister gehörte seitdem den Deutschen.
Die kunstgeschichtliche Deutung des Naumburger Meisters als eines deutschen Meisters beginnt 1905 mit Wilhelm Vöges „Die deutsche Plastik des 13. Jahrhunderts“. Adolph Goldschmidt entwickelt 1937 eine Theorie der Formenspaltung in der Kunstentwicklung , Hermann Giesau erkennt in seinen Publikationen über den Naumburger Meister in den dreißiger Jahre das deutsche Wesen. Wilhelm Pinder entwickelt die Theorien vom deutschen Wesen des Naumburger Meisters seit 1925. In einem Aufsatz von 1933 „Was ist deutsch an der deutschen Kunst?“ hat er ein Sprachvokabular entworfen, in dem das deutsche Wesen, die deutsche Seele, das urwüchsige Deutschtum am Naumburger Meister herausgestellt werden. Diese Sprache ist gebunden an Forschungsergebnisse von hohem Niveau und wird lange an den Universitäten gelehrt. Pinders Deutungen setzten sich in vielen Publikationen durch. Die Kuratoren der Naumburger Ausstellung beklagen diesen Sachverhalt. Kritik an den in der Zeit des Faschismus verbreiteten Theorien kam erst nach 1945 durch die Publikationen des Kunsthistorikers Willibald Sauerländer über die Stauferzeit auf. Doch ist diese Auseinandersetzung mit der älteren kunsthistorischen Forschung noch längst nicht abgeschlossen. In den Forschungsergebnissen des Ausstellungskatalogs zu Naumburg wird der Meister der Stifterfiguren im Westchor und der Passionszyklus im Lettner offen interpretiert. Tätig war hier ein Bildhauer und Architekt, Leiter einer Bauhütte mit hoher Kenntnis der theologischen und scholastischen Dispute der Zeit auf der Höhe eines Bernhard von Clairvaux. Die Ursprünge dieser Kunst liegen in Frankreich. Von dort sind sie nach Deutschland gelangt.
In Naumburg wird eine Revision im großen Stil vorgelegt, ein Streit geschlichtet, der sich vom Ersten Weltkrieg bis heute hingezogen hat. Außerhalb der Fachschaft Kunstgeschichte hat ihn kaum jemand bemerkt. Doch in dem Maße wie die Revisionswelle nach der Wende auf Institutionen, die vorher nie ernsthaft in Frage gestellt worden sind (wie zum Beispiel das Auswärtige Amt), übergegriffen hat, so stehen heute die universitäre Kunstgeschichte, die Publikationstätigkeit und das Museumswesen des 20. Jahrhunderts am Beginn einer umfassenden kritischen Untersuchung. Die Untersuchung der Rolle von Kunsthistorikern in Universitäten und Museen im Zusammenhang mit der Restitution jüdischen Kunstbesitzes steht ganz am Anfang.
Der Naumburger Meister – Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen. Landesausstellung Sachsen-Anhalt 2011, Naumburg/Saale, bis 2. November 2011, täglich 10 – 19 Uhr, freitags bis 22 Uhr.
Katalog: Der Naumburger Meister. Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2011, 2 Bände, 1.100 Seiten, 800 Abbildungen, 68 Euro.
Schlagwörter: Kunstgeschichte, Landesausstellung, Naumburger Meister, Ulrike Krenzlin