von Kai Agthe
Wer Musik mag, die abseits der Hitparaden auf Entdeckung wartet, wird über kurz oder lang auch auf Island fündig. Björk und Sigur Rós stehen ebenso für avantgardistische Klangkultur wie die auch hierzulande ebenfalls geschätzten Ólafur Arnalds und We made God, deren jüngstes Album den für ihre Heimat beredten Titel „It’s Getting Colder“ (Es wird kälter) trägt. Musik ist, deshalb soll es hier erwähnt sein, ein existenzieller Bestandteil isländischen Lebens. Sie wird in den Familien ebenso gepflegt wie in den kurzen Sommern auf zahllosen Festivals. Island, das so groß wie Bayern und Baden-Württemberg ist, hat also viel mehr zu bieten als 320.000 Einwohner, 460.000 Schafe und Vulkane, die Europas Flugverkehr beeinträchtigen.
Das Phänomen der „spontanen Festivals“ steht auch am Anfang des Buches „Alles ganz Isi“ von Alva Gehrmann, einer Berliner Journalistin mit einer Passion für den fernen Inselstaat. Sie beschreibt in neun Kapiteln die isländische Lebenskunst. Die unterscheidet sich erkennbar von jener, die in der Staatengemeinschaft Kontinentaleuropas gepflegt wird. Die Eigenheiten beginnen schon in der Sprache. Um diese von fremden Einflüssen freizuhalten, werden für alle, grundsätzlich alle Fremdwörter Entsprechungen gefunden: Der Fernseher etwa heißt im Isländischen „Sichtwurf“, und der Computer ist eine „Zahlenseherin“. Selbst vor dem Domestizieren von Markennamen schreckt man nicht zurück: Der US-Hersteller Apple etwa muss sich gefallen lassen, auf der Vulkaninsel unter dem Begriff „Epli“ zu firmieren.
Sicherlich sollte man nicht unzulässig verallgemeinern, aber Isländer sind in vielerlei Hinsicht eigenwillig: Sie schwimmen im eiskalten Ozean und relaxen in 40 Grad heißem Quellwasser. Das soll ein langes Leben garantieren. Ebenso der Verzehr von luftgetrocknetem Gammelhai, dessen Nachgeschmack nur mit einem Schnaps neutralisiert werden kann, und das tägliche Glas Dorsch-Lebertran. Auch Walfleisch steht bei den Isländern noch immer hoch im Kurs. Aber erst Widderhoden, Schafsköpfe und Blutwursttorte runden das „Buffet des Grauens“ ab.
Die Familie, die sehr oft eine Patchworkfamilie ist, stellt in der isländischen Gesellschaft den wichtigsten ideellen Wert dar. Nirgends ist die Geburtenrate in Europa so hoch wie auf dieser Insel. Aber im Grunde ist ja ganz Island eine einzige große Familie. Das spiegelt sich auch im öffentlichen Umgang wieder. Man sagt grundsätzlich „du“ zueinander. Selbst der Präsident und die Staatsminister werden allesamt geduzt. Es ist ein sehr entspanntes Verhältnis, das die Einwohner untereinander pflegen. Das empfinden nicht zuletzt auch Besucher als erholsam. „Island lehrt einen“, so Alva Gehrmanns Fazit, „den Menschen wieder mehr zu vertrauen.“ Beneidenswert ist auch, dass einen echten Isländer nichts aus der Ruhe zu bringen vermag. Selbst in Momenten, in denen wir in Hektik verfallen würden, reagiert der Nachfahre wilder Wikinger gewöhnlich mit einem unaufgeregten „Es regelt sich schon irgendwie“. Und sollte das mal nicht helfen, dann springt der Isländer ins eisige Meer und schwimmt eine Runde.
Nicht erst wegen der Finanzkrise, die 2008 das Land besonders arg beutelte, ist auf Island vieles möglich, was auf dem Festland undenkbar wäre. Bei der letzten Bürgermeisterwahl in der Hauptstadt trat im Frühjahr 2010 der Komiker Jón Gnarr als Kandidat der „Besten Partei“ an. Was als Spaß gedacht war, führte ihn mit 34,7 Prozent der Stimmen und in einer Koalition mit den Sozialdemokraten direkt ins Reykjaviker Rathaus. Gnarr ist nun Bürgermeister. Ihn zu treffen, ist der Autorin sogar gelungen. Denn die Isländer mögen, wie auch die Journalistin erfahren musste, nichts weniger als Termine, die mehr als zwei Tage in der Zukunft liegen.
Mag es in Brandenburg auch Wölfe und auf Gibraltar Affen geben, so darf man nach der Lektüre dieses Buch sagen, dass Island der mit Abstand exotischste Teil ist, den Europa aufzuweisen hat. Warum, das kann man in Alva Gehrmanns überaus anregenden Inselführer nachlesen!
Alva Gehrmann, Alles ganz Isi. Isländische Lebenskunst für Anfänger und Fortgeschrittene, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011, 254 Seiten, 14,90 Euro.
Island ist Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse vom 16. – 21. Oktober 2011.
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