von Ines Fritz
Ich habe Kinder und ich möchte, dass sie unversehrt erwachsen werden. Der Gedanke, dass ihnen etwas Schlimmes zustößt, versetzt mich in blanke Panik. Als Mutter bin ich bemüht, sie zu beschützen und ihnen trotzdem die Welt zu erklären, ohne dabei Ängste zu schüren. Als sehr schwer stellt sich heraus, sie über Sexualität aufzuklären, wozu meines Erachtens auch der Hinweis auf mögliche Gewaltwiderfahrnisse und der öffentliche Umgang damit gehören. Sollte meinen Kindern etwas passieren, wünsche ich mir Gerechtigkeit als Antwort, aber genau da tut sich eine Lücke auf.
Im als „Daphne-Studie“ bekannten Länderbericht Deutschland zum Vergleich der „Strafverfolgung von Vergewaltigung in elf europäischen Ländern“ aus dem Jahr 2009 ist zu lesen, dass die Meldequote einen Aufwärtstrend zeigt, doch der Trend geht vor allem auf Anzeigen von sexueller Nötigung zurück. Betrachtet man nur die Meldequote für Vergewaltigung, dann ist der Anstieg im Vergleich zu anderen EU-Ländern unterdurchschnittlich. Deutschland hat eine relativ niedrige Meldequote. Totzdem ist Deutschland damit insgesamt nicht länger eine europäische Ausnahme, sondern liegt im Mainstream – mit steigenden Meldequoten ohne Entsprechung in den Verurteilungsquoten. Die Verurteilungsquote wird mit 13 Prozent angegeben. Zum Vergleich: In den 80ern lag sie noch bei 20 Prozent. Das Muster „wachsende Anzeigequote, stabile Strafverfolgungsquote und fallende Verurteilungsquote“ charakterisiert den Trend in vielen europäischen Ländern.
Die Mehrheit der Opfer von Sexualstraftaten – immer noch laut „Daphne-Studie“ – war weiblich. Acht Prozent waren männlich, ein im Ländervergleich hoher Prozentsatz. Alle Verdächtigten waren männlich. Zwei Drittel der Verdächtigten waren keine Fremdtäter, sondern (Ex-)Partner (35 Prozent) und Freunde / Bekannte (29 Prozent). Die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Verdächtigen erhöht sich, wenn der Verdächtige kein Europäer ist, und wenn das Opfer eine Verletzung davonträgt, verdoppelt sie sich sogar. Unter den Verurteilten waren Singles und Erwerbslose überrepräsentiert. In nur gut einem Viertel der Fälle (28 von 100) wurde ein Hauptverfahren eröffnet. Verfahrenseinstellungen wurden in der Regel von der Staatsanwaltschaft vorgenommen. In den restlichen Fällen traf das Opfer (11 Prozent) und in einem Fall die Polizei die Entscheidung zur Verfahrenseinstellung, dies meist in der Phase des Ermittlungsverfahrens. In allen Fällen, in denen das Opfer nicht mehr kooperierte beziehungsweise die Anzeige zurückzog, war der Beschuldigte dem Opfer bekannt: In zehn von elf Fällen handelte es sich um den aktuellen oder den Ex-Partner / Ehemann. Gegen weniger als die Hälfte der einvernommenen Verdächtigen wurde Anklage erhoben. Die Einstellung des Verfahrens wurde meist mit Mangel an Beweisen begründet (33 von 40). In weniger als einem Viertel der Fälle (23 Prozent) wurde eine gerichtsmedizinische Untersuchung durchgeführt – eine der niedrigsten Quoten im Ländervergleich. In der Hälfte der Fälle wurde in Frage gestellt, ob sich die Tat ereignet hat. Der Anteil der Falschanschuldigungen bei Vergewaltigung liegt bei nur drei Prozent. Auch in anderen Ländern ist das Problem der Falschanschuldigung marginal und rangiert zwischen einem und neun Prozent. Diese Ergebnisse widerlegen die bei der Polizei und bei den Justizbehörden weit verbreitete Auffassung, dass Falschanschuldigungen ein großes Problem bei der Strafverfolgung von Vergewaltigung darstellen.
Die Daphne-Studie findet in den deutschen Leitmedien allerdings kaum Beachtung. Bei zusätzlichen Hinweisen in den Kommentarspalten, wird sie als „unwissenschaftlich“ und „feministisch“ verdammt. Das Bild der „rachsüchtigen Lügnerin“, die eine Vergewaltigung erfindet, um Männern erheblichen Schaden zuzufügen, wird häufiger als Teufel an die Wand gemalt. Dazu wird mehr oder weniger subtil die Befürchtung geäußert, dass zu viele Männer zu Unrecht wegen Vergewaltigung bestraft werden. Dieser Gefahr müsse die Justiz begegnen, zum Schutz der Männer vor dem „Willkürstaat“ und vor lügenden Frauen. Nachfolgend drei typische Beispiele aus jüngster Zeit.
In der Frankfurter Rundschau vom 06.07.2011 wünscht sich Udo Vetter, Fachanwalt für Strafrecht und Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Düsseldorf, in der Rückschau auf die Freisprüche wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung für Jörg Kachelmann und einen Lehrer aus Kassel, dass Richter sensibler werden und nicht mehr so schnell verurteilen und behauptet, dass auch Juristen fähig zur Selbstkritik seien. „Man muss vor Gericht dem Zweifelsgrundsatz wieder zu mehr Geltung verhelfen“, sagt Vetter. „Lieber sollte ein Gericht einen Schuldigen freisprechen, als einen Unschuldigen ins Gefängnis zu schicken.“ Er spricht dabei vom „möglichen Opfer“, in seiner Darstellung ist das eine Frau.
In der ZEIT vom 11.07.2011 schreibt Sabine Rückert über „Lügen, die man gerne glaubt“ und stellt fest: „Auch in der deutschen Justiz werden falsche Beschuldigungen umso lieber für wahr gehalten, je präziser sie den Erwartungen der Belogenen entsprechen“. Zitiert wird der Kieler Psychologieprofessor Günter Köhnken, laut Rückert einer der gefragtesten Glaubwürdigkeitssachverständigen Deutschlands. Er schätzt die Quote der Falschbeschuldiger auf 30 bis 40 Prozent. Klaus Püschel, Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts Hamburg, mit Deutschlands größter Opferambulanz, konstatiert, im Jahr 2009 hätten sich 27 Prozent der angeblich Vergewaltigten bei der ärztlichen Untersuchung als Scheinopfer erwiesen, „die sich ihre Verletzungen selbst zugefügt hatten“. Auch Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof, wird mit folgender Aussage zitiert: „Die in Statistiken meist verfälschte, tatsächlich aber relativ hohe Falschaussagenquote gerade in Sexualstrafverfahren wird nicht ausreichend beachtet.“
In der Süddeutschen Zeitung widmet sich Andreas Zielcke am 13.07.2011 dem Thema „Sexualanklagen und Geschlechterdiskurs“ unter dem Titel „Harter Schlag ins Leere“ und schreibt: „Im Zentrum steht der prozessuale Wahrheitsbegriff. Vor dem Urteil lautet die Frage nicht: Was war wirklich der Fall? Sondern allein: Ist der Angeklagte der ihm vorgeworfenen Tat überführt oder nicht? Das Gericht hat keinen Forschungsauftrag herauszufinden, was tatsächlich passiert ist. Es muss nur entscheiden, ob die erreichbaren und zulässigen Beweise für einen Schuldspruch reichen. Falls nicht, ist freizusprechen ohne Wenn und Aber. Zweitklassige Freisprüche ‚mangels Beweis’ gibt es folglich nicht mehr, weder hier noch in den USA.“
Ich fordere, dass niemandem sexuelle Erfahrung aufgezwungen wird. Allerdings wird meine Forderung Täter nicht beeindrucken. Darum wünsche ich mir eine Diskussion, die nicht Justizirrtümer als Makel eines Rechtsstaates in den Mittelpunkt rückt, sondern den Mangel an Gerechtigkeit, den Opfer sexualisierter Gewalt erleben, weil man ihnen nicht glaubt. Meinen Kindern habe ich erklärt, dass es auch in einem Rechtsstaat ungerechte Urteile geben kann. Als unschuldig Verurteilte können Sie Rehabilitation und Entschädigung verlangen. Vor allem aber dass sie nie ein Opfer werden, wünsche ich mir jeden Tag, aus mehreren Gründen.
Schlagwörter: Daphne-Studie, Ines Fritz, Rechtsstaat, Sexualstraftaten, sexuelle Gewalt, Strafverfolgung, Vergewaltigung