von Martin Zöller, Weltreporter, Rom
Nehmen wir einmal an, Sie kommen nach Rom, finden beim Schlendern durch die Gassen eine schöne Trattoria, wollen am Abend dorthin zurückkehren und reservieren mittags schon einmal für 21 Uhr einen Tisch. Am Abend finden Sie das Lokal aber nicht und kommen erst um 21 Uhr 30. Der Kellner sieht Sie vorwurfsvoll an, deutet auf die Schlange an Menschen, die vor dem Lokal wartet. Es ist ziemlich peinlich. Wie Sie da wieder rauskommen? Sehr einfach: Die Hände weit von sich strecken, die Schultern hochziehen, das Kinn nach vorne schieben und dann folgendes sagen: „Eeeeeeeeeeeeeeh, il traffico“. Ein Hinweis auf den Straßenverkehr ist in Rom die Universalausrede für jede Gelegenheit. Egal ob man als Bräutigam zu spät zur eigenen Hochzeit kommt oder als Feuerwehrmann zu spät zum brennenden Haus, „eeeeeeeeeeeeeeh, il traffico“ reicht als Erklärung völlig aus.
Mir aber eigentlich nicht. Der Gleichmut, mit dem die Römer auf andere Römer warten, die zu spät kommen, ist mir auch nach fünf Jahren immer noch fremd. Wenn mir jemand „Eeeeeeeeeeeeeeh, il traffico“ sagt, dann nicke ich zwar, aber mit zusammengepressten Lippen, die klarmachen sollen: „Das kannst Du Deiner Oma in den Abruzzen erzählen.“
Kürzlich war ich nach langer Zeit mit meiner römischen Freundin Barbara verabredet, die den Vorschlag machte, ich solle doch mit ihr und ihren Freunden in eine Diskothek gehen. Wir verabredeten uns für 23 Uhr, sie kam um 23 Uhr 30 („„Eeeeeeeeeeeeeeh, il traffico“), ihre Freunde um Mitternacht („Eeeeeeeeeeeeeeh, il traffico“). Gegen halb eins fuhren wir in die Disko, vor der wir auf weitere Freunde warteten, die um etwa viertel nach eins eintrafen („Eeeeeeeeeeeeeeh, il traffico“). Um sage und schreibe drei Uhr, nach gut eineinhalb Stunden Schlangestehen, betraten wir die Disko. Ich habe es nur deshalb geschafft, nicht zu explodieren, weil ich irgendwann den Abend von „Spaß haben und tanzen“ auf „machen wir eine Sozialstudie über die Römer“ umgewidmet hatte. Ich stellte dabei auch fest, dass es völlig akzeptiert ist, wenn Freunde, die nachweislich ein Motorino haben und sich durch den noch so starken Verkehr hindurchmogeln können, sich seelenruhig mit „Eeeeeeeeeeeeeeh, il traffico“ entschuldigen.
Auch ich habe mich schon manchmal, aber sehr selten mit „Eeeeeeeeeeeeeeh, il traffico“ entschuldigt. Warum selten? Ich bin immer pünktlich, selbst wenn ich unpünklich bin. Es ist einfach Verlass darauf, dass der Mensch, mit dem man in Rom verabredet ist, noch später kommt als man selbst. Ich kann im römischen Verkehr mein Leben riskieren, aus Panik, zu spät zu kommen, ich schicke SMS und kündige meine Verspätung an, doch schließlich bin ich es wieder, der wartet:
Bis dann auf einen vorwurfsvollen Blick hin der Freund die Hände weit von sich streckt, die Schultern hochzieht, das Kinn nach vorne schiebt und sagt: „Eeeeeeeeeeeeeeh, il traffico“.
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