von Harald Schumann
Stellen Sie sich vor, ein Weltkonzern deutscher Herkunft trifft mit dem Bundesfinanzministerium eine geheime Verabredung. Danach soll die Bundeskasse die Schulden eines mittelständischen Unternehmens in Höhe von fast zehn Milliarden Euro übernehmen, damit dieses seine Schulden bei dem Großkonzern bedienen kann. Die Überschuldung war entstanden, weil eben dieser Konzern dem Unternehmen zuvor Produkte verkauft hatte, die absichtlich fehlerhaft konstruiert und mit gefälschten Gütesiegeln ausgestattet waren. Aber das interessiert den Finanzminister nicht. Er zahlt die zehn Milliarden aus dem ihm anvertrauten Steuergeld, ohne zu zögern. Das ist etwa so viel, wie alle deutschen Universitäten gemeinsam pro Semester an öffentlichen Geldern erhalten. Aber der Bundestag darf darüber nicht abstimmen. Er hat nicht mal das Recht, die zugehörigen Dokumente einzusehen. Und als ein paar Abgeordnete kritische Fragen stellen, kriegen sie keine Antwort. Und obwohl es starke Indizien gibt, dass organisierter Betrug im Spiel war, nimmt kein Staatsanwalt Ermittlungen auf.
Zehn Milliarden Euro, einfach so, ohne Parlamentsbeschluss? Organisierter Betrug? Konspiration zwischen Regierung und einem Konzern? Klingt unglaublich, oder?
Aber die Geschichte ist nicht erfunden, sondern hat sich vor unser aller Augen genauso abgespielt. Denn genauso hat die Deutsche Bank im Juli 2007 erst die Düsseldorfer Mittelstandsbank IKB in die Pleite gedealt und sich dann ihre vom Ausfall bedrohten Kredite über die KfW aus der Bundeskasse erstatten lassen.
Nächster Fall: Stellen Sie sich vor, die europäische Kartellbehörde entdeckt, dass ein großer deutscher Konzern gemeinsam mit anderen aus der gleichen Branche konspiriert, um den Wettbewerb auszuschalten und die Preise ihres Produkts europaweit nach oben zu treiben. Der Schaden zu Lasten der Verbraucher liegt im zweistelligen Milliardenbereich pro Jahr. Die Ermittler haben zahlreiche belastende Unterlagen beschlagnahmt und sogar massive Indizien dafür gefunden, dass die Kartellbrüder die Börsenpreise manipuliert haben. Trotzdem wird keine Anklage erhoben. Denn Verstöße gegen das Kartellrecht sind nur eine Ordnungswidrigkeit.
Und trotz des Milliardenschadens bei den Bürgern wird keiner der beteiligten Manager irgendwie zur Verantwortung gezogen. Ja, es wird nicht einmal ein Bußgeld gegen den Konzern verhängt. Stattdessen muss er lediglich ein paar Auflagen zur weiteren Geschäftsführung erfüllen. Und die Parlamente, die Volksvertreter? Machen nichts. Die Bürger werden zwar abgezockt, aber ihre Vertreter kümmert es nicht.
Klingt schon wieder verrückt, oder? Ist aber genauso geschehen. 2008 wurde der Stromkonzern Eon von der EU-Kommission der Preisabsprache und Manipulation der Preise an der Strombörse überführt. Es gab Hunderte von belastenden Protokollen und E-Mails. Aber trotzdem endete das ganze Verfahren damit, dass Eon nur ein paar Unternehmensteile verkaufen musste. Sonst geschah nichts.
Dritter Fall. Stellen Sie sich vor, eine große EU-Behörde vergibt jedes Jahr an die 30 Milliarden Euro an Subventionen an eine bestimmte Wirtschaftsbranche, und dort vornehmlich an große Konzerne. Bisher sind schon mindestens 90 Milliarden Euro geflossen. Das ist schon ein Haufen Geld. Aber kein Parlament, weder das in Straßburg noch die in den EU-Hauptstädten haben jemals über dieses gigantische Subventionsprogramm abgestimmt. Denn das dürfen sie auch gar nicht.
Auch das scheint merkwürdig, und doch geschieht auch das tatsächlich: Die Behörde ist die europäische Zentralbank. Die vergibt seit nun schon drei Jahren Kredite im Volumen von zeitweilig bis zu 1.000 Milliarden Euro für nur ein Prozent Zins an alle Banken, die das wollen. Das Geld können diese Banken dann sofort für das Drei- bis Vierfache dieses Zinssatzes an die EU-Staaten weiterreichen – ein sagenhaftes Geschäft, ohne jedes Risiko, aber dafür auf Kosten der Steuerzahler, die für die Differenz aufkommen müssen.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht: Warum erzählt der uns diese ollen Kamellen? Ist doch alles bekannt, stand schließlich in der Zeitung. Aber genau das ist es: Alles ist bekannt, aber nichts passiert. Und eben das beschreibt ein – wie ich meine – höchst gefährliches Phänomen: Alle unsere demokratischen Institutionen, gleich ob in Deutschland oder in der Europäischen Union, funktionieren mittlerweile so, dass systematisch jene begünstigt werden, die über große wirtschaftliche Macht verfügen. Gleich ob es sich um die Finanzindustrie handelt oder die Energiewirtschaft, um die Automobilkonzerne, die Pharma- oder die Nahrungsmittelindustrie – wo immer sich die wirtschaftliche Macht in der Hand kleiner Führungszirkel ballt, gelingt es ihnen, die Staatsapparate soweit zu durchdringen, dass sie die Politik und vielfach auch die mediale Berichterstattung zu Gunsten ihrer Unternehmen und deren Eigentümern manipulieren können.
Warum ist das so? Eine einfache Erklärung ist die „Globalisierung“ beziehungsweise die „Europäisierung“. Und es stimmt ja auch: Das Kapital ist im Zuge der seit Jahrzehnten betriebenen Liberalisierung höchst mobil geworden, aber Arbeitnehmer, Gewerkschaften und vor allem die Regierungen sind im nationalen Korsett gefangen blieben. Nichts ist folglich leichter, als die jeweils nationalen Akteure auf internationaler Ebene gegeneinander auszuspielen. Und so werden dann die Steuern auf Kapitalerträge gesenkt, die Löhne gedrückt, die Sozialsysteme geschrumpft oder natürlich Subventionen und staatliche Gratisleistungen ohne Ende an Unternehmen verteilt. Und das alles stets, um das flüchtige Kapital gnädig zu stimmen und auf die jeweiligem nationalen Weiden zu locken. Das ganze heißt dann „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“, wie derzeit ja auch wieder unsere Kanzlerin unermüdlich predigt.
So weit, so schlecht, so bekannt. Doch die Mär von der Ohnmacht der Politik gegenüber dem globalisierten Kapital ist nicht einmal die halbe Wahrheit und in den meisten Fällen auch einfach nur eine bequeme Ausrede. Vor allem aber, und das ist der wichtigste Punkt, sie bietet keinen Ausweg, sondern führt uns immer tiefer hinein in eine höchst gefährliche Fehlentwicklung, und das ist die soziale Spaltung der Gesellschaft. Denn die weitgehende Unterwerfung der Politik unter die Vorgaben von Konzernfürsten und Investoren erzeugt eine permanente Verschiebung von Einkommen und Vermögen von unten nach oben.
In Deutschland ist der gesamte wirtschaftliche Zuwachs der vergangenen 20 Jahre statistisch gesehen ausschließlich bei den Beziehern von Kapitalerträgen und Unternehmensgewinnen gelandet, während die Arbeitnehmer real und netto auf dem Stand von 1991 blieben. Weil aber viele hoch Qualifizierte heute natürlich mehr Einkommen haben, heißt das, dass erhebliche Teile der Bevölkerung seit Jahren mit schrumpfenden Einkommen auskommen müssen.
Gleichzeitig häufen sich in einem ganz kleinen Teil der Bevölkerung sich immer größere Vermögen an. Heute besitzen in D zehn Prozernt der Bürger zwei Drittel des gesamten Anlagevermögens. Knapp ein Prozent der Erwerbsbevölkerung, also 650.000 Menschen, besitzen ein Viertel. Und selbst diese Zahl ist noch irreführend, weil auch selbst genutzte Immobilien eingerechnet sind, also Oma ihr klein Häuschen ist auch dabei. Rechnet man das heraus, sind die Werte sogar noch deutlich höher.
Das ist keineswegs nur ein Problem der Gerechtigkeit, sondern auch ein massives volkswirtschaftliches Problem: Denn diese Vermögen und die Einkommen daraus dienen nicht dem Konsum, sie erzeugen keine Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Stattdessen steigt unablässig die Nachfrage nach Finanzanlagen, und so ist die Vermögenskonzentration selbst eine wesentliche Ursache für die Aufblähung der Finanzindustrie und der damit produzierten Krise.
Doch die exzessive Ungleichheit erzeugt außerdem eine Gefahr, die noch schlimmer ist als die Krisen: Sie gefährdet zusehends die Stabilität des ganzen Systems, denn natürlich hat sie politische Folgen: Während die Minderheit der Vermögenden über ihren Besitz an Kapital immer größere Macht anhäufen, breitet sich in der übrigen Gesellschaft die Angst vor dem Abstieg aus. Und das führt überall zur selben Konsequenz: Wer sich von Ausgrenzung bedroht sieht, trachtet seinerseits nach Ausgrenzung der noch schwächeren und der Fremden. Kaum etwas ist politisch so explosiv wie die Ausbreitung von Statusängsten. Denn diese verunsichern die Menschen in ihrer Identität, in ihrer Vorstellung über ihren Platz in der Gesellschaft. Dann suchen sie nach Absicherung nach unten, und das geht nun mal am ehesten über die Abwertung anderer. Beinahe automatisch greifen darum mit wachsender sozialer Spaltung Rassismus und der Ruf nach Abschottung gegen das böse Ausland um sich. Nicht die Armut selbst ist eine Gefahr für die Demokratie, aber umso mehr die Angst davor.
Dies ist eine historische Konstante, die über alle Zeiten und Kulturen hinweg gilt: Wachsende Ungleichheit stärkt unvermeidlich die irrationalen politischen Kräfte.
Und genau das lässt sich leider weltweit beobachten: In den USA zeigt es sich beim Aufstieg der religiösen Fundamentalisten und radikalen Staatsverächter. Dort ist auch zu besichtigen, wie absurd irrational die Politik werden kann, wenn die Spaltung erst einmal die Gesellschaft wirklich zerrissen hat. Alles wofür die Tea Party als der neue radikale Zweig der republikanischen Partei streitet, wird die Lage ihrer von Statusängsten getriebenen Unterstützer noch weiter verschlechtern.
In Europa läuft derweil der Aufstieg von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen auf vollen Touren, und auch hier ist die Angst ihr Nährboden. Alle Umfragen bestätigen: Plötzlich sehen die Menschen den Islam als große Gefahr, und rassistische oder menschenfeindliche Ansichten über Minderheiten aller Art breiten sich aus. All diese Ängste und Ressentiments können jederzeit von politischen Verführern missbraucht werden. Der Verlauf der Sarazin-Debatte in Deutschland war ein drastisches Warnzeichen. Scheinbar ohne Grund verwandelten sich da harmlose Mittelschichtbürger in einen üblen Mob, der nicht mal mehr öffentliche Debatten zulassen wollte und Kritiker einfach niederbrüllte.
All das bedeutet: Wenn unsere Politik weiterhin dem bisherigen Muster folgt, dann wird dies – und das ist keine Übertreibung – dann wird dies unsere Demokratie früher oder später in ganz Europa Rechtspopulisten und Medienfaschisten nach dem Vorbild Berlusconi ausliefern. Und diese werden mit der Renationalisierung der Politik das europäische Projekt früher oder später zerstören, wenn es nicht gelingt sie aufzuhalten.
Darum war es ein strategischer Fehler, dass die Grünen zu Zeiten der Schröder-Regierung die massive Umverteilung von unten nach oben mit voran getrieben haben. Insbesondere die Zwangsflexibilisierung der Arbeitslosen ohne die Einziehung von Lohnuntergrenzen war unverantwortlich. So etwas haben nicht einmal die hartleibigsten britischen Neoliberalen betrieben. Das haben nur deutsche Sozialdemokraten fertig gebracht, und die Grünen haben das kritiklos mitgemacht.
Umso dringender ist es jetzt, der Rückkehr zur Verteilungsgerechtigkeit absolute Priorität zu geben. Jedenfalls dann, wenn wir die Demokratie stabilisieren und stärken wollen.
Ja, ich weiß, da gibt es noch ganz andere, viel größere Aufgaben: das Megaproblem Klimawandel zum Beispiel, das seinerseits ein furchtbares Gerechtigkeitsproblem zwischen Nord und Süd aufwirft. Aber eines ist sicher: Es wird niemals politische Mehrheiten für einen globalen Klimapakt, eine Reduzierung unseres Ressourcenverbrauchs und einen fairen Nord-Süd-Ausgleich geben, wenn die Bürger wissen, dass die Lasten nicht fair verteilt werden. Da gilt eine ganz simple Formel: Ohne lokale oder nationale Gerechtigkeit ist globale Gerechtigkeit unmöglich!
Mit anderen Worten: Verteilung ist nicht alles, aber ohne Verteilungsgerechtigkeit wird alles nichts.
Leider ist aber völlig offen, ob sich die dafür notwendigen politischen Maßnahmen, also ein flächendeckender Mindestlohn, eine progressive Vermögens- und Erbschaftssteuer und die Vereinheitlichung der Unternehmens- und Kapitalbesteuerung in Europa, um nur die wichtigsten zu nennen, ob sich solche oder vergleichbare Vorhaben überhaupt noch durchsetzen lassen. Denn unsere politischen Institutionen und da vor allem die Parlamente sind inzwischen so verkommen, dass ihre Ohnmacht praktisch schon eingebaut ist.
Nichts macht das deutlicher, als die seit drei Jahren laufende so genannte Bankenrettung, die neuerdings auch Rettung der Griechen oder der Iren heißt. De facto geht es dabei um nichts anderes, als die Gläubiger dieser überschuldeten Finanzinstitute und Staaten vor Verlusten zu schützen, also vor allem andere Banken und ihre vermögenden Kunden. Dafür wurde das Haushalts-Recht des Parlaments, die Ur-Idee der Demokratie, in allen Krisenstaaten außer Kraft gesetzt. Die Ausgabe von Steuergeldern im Multi-Milliarden-Maßstab erfolgt ohne parlamentarische Kontrolle, und was noch wichtiger ist, ohne öffentliche Debatte, das heißt, Bürger können bis heute nicht überprüfen, warum und für wen sie zahlen.
In Deutschland fing es schon damit an, dass die Konditionen in Geheimverhandlungen von zwei Regierungsbeamten mit Vertretern der Banken festgelegt wurden, im wesentlichen von Josef Ackermann. Der brachte auch gleich seine Anwälte mit, die kamen von der weltweite tätigen Großkanzlei Freshfields, Bruckhaus, Deringer, die dann praktischerweise gleich auch die Gesetzentwürfe schriebt.
Das hat bis heute gravierende Folgen. Parlamentarier haben keine Kontrolle über den Soffin. Es gibt lediglich ein Informationsgremium aus neun Abgeordneten. Die dürfen aber nur fragen, keine Dokumente einsehen, keine Vorladungen aussprechen, und die dürfen nicht mal darüber reden, weder mit ihren Wählern noch mit ihren Kollegen. Das ist etwa so demokratisch, wie der Volkskongress von Nordkorea, und ich habe bis heute nicht verstanden, warum die Grünen da mitmachen, anstatt diese Verhöhnung des Parlaments zu boykottieren und immer wieder anzuprangern.
Wozu das führt zeigt etwa der Fall der Commerzbank: Da hat die Regierung im Namen der Steuerzahler, also uns allen, 18 Milliarden Euro in eine Bank investiert, die an der Börse nicht mal mehr dfrei Milliarden Euro wert war. Das war fast so viel, wie alle deutschen Universitäten im Jahr kosten. Dafür haben wir aber einen 25-prozentigen Anteil an der Bank bekommen. Der Rest floss als stille Einlage. Die soll zwar verzinst werden, aber nur, wenn die Bank auch entsprechend Gewinn erwirtschaftet. Nur der steht auf Jahre nicht in Aussicht. Und das Ganze geschah nur, um der Commerzbank die Übernahme der maroden Dresdner Bank zu finanzieren und damit dem vorherigen Besitzer, der Allianz AG, die Kosten der Sanierung zu ersparen Zu keinem Zeitpunkt wurde auch nur erwogen, die Allianz für die Kosten der Sanierung der Dresdner Bank heranzuziehen, obwohl ausschließlich dieser größte Finanzkonzern Europas für die Misere verantwortlich war. Die Verträge zwischen der Commerzbank und der Allianz sind bis heute strikt geheim. Auch die angeblichen Kontrolleure des Soffin in dem schon erwähnten machtlosen Gremium haben sie nie zu sehen bekommen.
Das Ergebnis der Operation war dann im Jahr 2010 in den Bilanzberichten nachzulesen: Die Commerzbank machte vier Milliarden Euro Verlust, die Allianz berichtete vier Milliarden Euro Gewinn.
Anfangs dachte ich noch, bei diesen Vorgängen handele es sich um einen einmaligen Unfall. Aber das war ein Irrtum. Denn das läuft immer weiter. Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, hat der Bundestag vergangenen Dezember die Bankenrettung jetzt institutionell verewigt. Nun gibt es eine Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung und diese darf nach Gutdünken der Exekutive auch künftig bis zu 100 Milliarden Euro zur Rettung von Banken und ihren Gläubigern ausgeben, ohne dass der Haushaltsausschuss des Bundestages auch nur gefragt werden muss. Als ich daraufhin Abgeordnete aus dem HH-Ausschuss befragte, wie sie diese Verweigerung ihrer zentralen Aufgabe rechtfertigen, erntete ich nur erstaunte Gegenfragen. Wieso Verweigerung? Wir können doch nicht jede Ausgabe prüfen, hielten mir die parlamentarischen Kontrolleure der Regierung entgegen.
Das ist nur eine Episode, aber sie ist exemplarisch für den ganzen Parlamentsbetrieb: Die große Mehrzahl der Abgeordneten sieht es gar nicht als ihre Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren und auf die Trennung zwischen einzelwirtschaftlichen Interessen und dem Gemeinwohl zu dringen. Im Gegenteil: Die meisten sind auch gar nicht in der Lage dazu, überhaupt noch zu unterscheiden, weil sie sich selbst allen möglichen Einzelinteressen verschrieben haben.
Und das gilt ja auch für die Regierung selbst: Dort wird das private Interesse einzelner Unternehmen und Kapitaleigner systematisch höher bewertet als die Rechte des Parlaments und der Bürger.
Herausragender Fall ist da wieder die Finanzwirtschaft. (Aber ich könnte auch die Energie- oder die Pharmabranche wählen.) Da fragten mehrere Abgeordnete der Linken und der Grünen, wer denn nun die Begünstigten der IKB-Rettung waren. Wie hoch waren zum Beispiel die Kredite der Deutschen Bank, die mit den acht Milliarden Euro Stützung durch den Staat abgelöst wurden? Die Antwort der Bundesregierung lautete, ich zitiere: „Konkrete Aussagen zur Gläubigerstruktur betreffen sensible Geschäftsgeheimnisse und berühren somit die Grundrechte der Gläubiger aus Artikel 12 und 14 GG. Die Daten unterliegen der Verschwiegenheitspflicht nach § 9 KWG und können daher nicht genannt werden.“
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Artikel 12 schützt die freie Wahl von Beruf und Arbeitsplatz, der Artikel 14 das Eigentum. Das ist gleichzeitig auch der Artikel mit dem berühmten Zusatz, wonach das Eigentum auch dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll. Und nun wird ausgerechnet dieser Grundgesetzartikel benutzt, um eben diese Allgemeinheit mit Milliarden Euro zusätzlicher Schulden zu belasten, und die Begünstigten dieser Ausgaben bleiben auch noch geheim – ein ungeheuerlicher Bruch mit demokratischen Grundnormen.
Der beschränkt sich auch nicht auf den Bundestag. Kürzlich hat Baden-Württembergs Ministerpräsident Mappus ein ähnliches Ding durchgezogen und mal eben ohne jeden Parlamentsbeschluss fünf Milliarden Euro Steuergeld für den Rückkauf des Stromkonzerns EnBW ausgegeben, und das ganze auf den Rat eines Freundes von der Investmentbank Morgan Stanley, die vermutlich daran auch noch verdient hat. Auch das ist ein irrer Vorgang, von dem ich nur hoffen kann, dass er nach der Wahl in zwei Wochen über einen Untersuchungsausschuss im Landtag gründlich aufgeklärt wird.
Dazu passt die immer weiter gehende personelle Verflechtung zwischen Konzernen, Ministerien und EU-Kommission und Politik. Da geht der frühere Finanzstaatssekretär Kajo Koch-Weser, ehedem zuständig für die Finanzmarkt-Regulierung, zur Deutschen Bank. Da wird Andreas Dombret, früher Investmentbanker bei der Deutschen Bank und der Bank of America, neues Vorstandsmitglied der Bundesbank und ist dort nun für die Aufsicht zuständig. Da leitet der frühere Top-Lobbyist der Privaten Krankenkassen die Grundsatzabteilung im Gesundheitsministerium, und der frühere Generalbevollmächtigte des Stromkonzerns Eon ist jetzt Chef der Abteilung Reaktorsicherheit im Umweltministerium und handelt nun mit seinem früheren Arbeitgeber die Sicherheitsauflagen aus. Und zu allem Überfluss ist das Finanzministerium sogar als Institution selbst Mitglied einer Lobbyorganisation namens „Initiative Finanzstandort Deutschland“.
All das zeigt an: Es gibt in den Parlamenten und Ministerien kein Immunsystem mehr, das es ermöglicht, private Interessen von jenen des Gemeinwohls zu trennen. Und genau das ist es aber, was viele Bürger anwidert und zur Wahlenthaltung treibt.
Ja, dieser Politikverdruss hat auch viel mit der Trägheit der Wohlstandsgesellschaft zu tun. Die Abgeordneten sind auch deshalb so willfährig und schwach, weil sie kaum Druck von unten bekommen. Hätten kritische Frager auch nur bei jeden zweiten Abgeordnete öffentlich auf eine Rechtfertigung für den absurden Commerzbank-Deal gedrungen, wäre das vermutlich so nicht durchgekommen.
Damit es dazu kommt, wäre es aber umso dringender, dass alle jene, die den stillen Staatsstreich der Konzernmächtigen und ihrer politischen Wasserträger nicht dulden wollen, energisch und hartnäckig auf radikal neue Regeln zur Säuberung der Parlamente, Ministerien und der EU-Kommission von verdeckten Interessen und Einflussnahmen drängen. Das müsste schon damit beginnen, Deutschland und das EU-Parlament bei der Bekämpfung der politischen Korruption wenigstens auf internationale Standards zu bringen und die entsprechende UN-Konvention endlich zu ratifizieren.
Tatsache ist, dass hierzulande die Bestechung von Abgeordneten nicht verboten ist. Zum Beispiel darf man einem Abgeordneten für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten in Fraktionssitzungen mit Geld oder sonstigen Wohltaten belohnen, also genau dort, wo die wichtigen Vorentscheidungen fallen. Man darf auch dem Ehepartner von Abgeordneten Geld zustecken. Man darf Abgeordneten auch nach Abstimmungen für ihre Arbeit Geld geben, die so genannten Dankeschön-Spenden, alles ganz legal.
Deutschland knüpft Hilfszusagen für Afghanistan an die Bedingung, die dortige Regierung solle die Korruption unterbinden. Gleichzeitig weigert sich der Bundestag, die Voraussetzungen der UN-Konvention im eigenen Land zu erfüllen. Das, so würde ich es mir wünschen, müsste ein großes Dauer-Thema für die Grünen sein. Dazu würde gleichzeitig gehören, endlich alle Abgeordneten zu verpflichten, alle ihre Einkünfte einschließlich von deren Quellen offen zu legen. Die derzeitige Regelung ist ein Witz. Da muss der oder die Abgeordnete nur angeben, ob er oder sie mehr oder weniger als 7.000 Euro nebenher verdient, auch wenn es Millionen sind. Und wer sich als Unternehmensberater ausgibt oder Anwalt ist, darf sogar verschweigen, wer da eigentlich bezahlt. Das ist ein unhaltbarer Zustand und geradezu eine Einladung zur Käuflichkeit.
Ich bin mir ganz sicher: Allein schon eine echte Transparenzregelung würde dafür sorgen, dass ganz andere Leute in die Parlamente einziehen. Das gilt erst recht, wenn es dann auch dreijährige Karenzzeiten für den Wechsel von politischen Ämtern zu Wirtschaftsunternehmen gäbe, soweit es sich um Unternehmen handelt, mit deren Interessen der Amtsinhaber vorher zu tun hatte. Wenn es nicht mehr möglich wäre, einen Politiker für frühere Unterstützungsleistungen mit einem guten Job zu belohnen, würde das ganze andere Politikertypen nach vorne bringen.
Allenthalben heißt es, es gelte das Primat der Politik über die Wirtschaft wieder herzustellen. Sogar Angela Merkel hat davon schon geschwafelt. Aber wenn man damit ernst machen will, dann müssen wir noch viel mehr schaffen als Transparenz. Dafür braucht die Republik nicht weniger als eine radikale Wiederbelebung der parlamentarischen Idee. Und das bedeutet vor allem: Mehr Macht und mehr Mittel für die Parlamente. Derzeit stehen die verfügbaren Ressourcen für die Parlamentarier in keinem Verhältnis mehr zu den Anforderungen an das Regieren einer komplexen Industriegesellschaft.
Um die Regierung wirklich kontrollieren zu können, müsste der Bundestag überhaupt erst in die Lage versetzt werden, unabhängig von den Ministerien Haushaltspläne zu prüfen, Kostenschätzungen vornehmen zu lassen und unabhängige Gutachter zu beauftragen. Und um als Parlament wieder ernst genommen zu werden, müsste der Bundestag – und erst recht das Europaparlament – das Recht auf eigenständige Ermittlungen bekommen, einschließlich der Möglichkeit, Durchsuchungen durchführen und Akten beschlagnahmen zu lassen, so wie es etwa im US-Kongress selbstverständlich ist. Dort gibt es sogar in beiden Kammern permanente Untersuchungsausschüsse mit allen staatsanwaltschaftlichen Vollmachten, und trotz allem, was an der Abhängigkeit der amerikanischen Senatoren und Abgeordneten von den Wahlkampfspenden der Industrie zu kritisieren ist: An diesem Punkt ist die amerikanische Demokratie ein echtes Vorbild.
Ich weiß, das klingt alles sehr ambitioniert, und misst man es an den derzeitigen Verhältnissen, dann scheint es fast unerreichbar. Aber wer nicht will, dass die Demokratie zur Folklore verkommt und die Macht sich immer mehr bei einer kleinen wirtschaftlichen Elite konzentriert, der darf sich nicht mit Protestmärschen begnügen. Wir müssen für die Revitalisierung der Parlamente streiten. Denn sie, und nichts anderes, sind das wichtigste Instrument, das wir haben.
Und eines weiß ich ganz sicher: Wenn es nicht gelingt, die Politik aus der Übermacht organisierter einzelwirtschaftlicher Interessen zu befreien, werden wir keine der großen kommenden Krisen bewältigen können. Weder die Neuordnung der Finanzmärkte noch den ökologischen Umbau, weder den Nord-Süd-Ausgleich noch Erfüllung der Millenniumsziele werden gelingen, solange die Konzerne de facto eine Vetomacht haben.
Ich muss allerdings zugeben: Die Erkenntnis nicht sehr originell. Schon die Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft, auf die sich ja auch die Kanzlerin und ihre Christenunion so gerne berufen, haben genau so gedacht. Zum Beispiel der Ökonom Walther Eucken, der große Vordenker jener Zeit, schrieb 1950: „Es ist also nicht der Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu bekämpfen, zu bekämpfen ist die wirtschaftliche Macht selbst.“
Ich finde, der Mann hatte Recht. Daran gilt es anzuknüpfen.
Diesen Vortrag hielt der Autor, Redakteur für besondere Aufgaben beim Tagesspiegel, am 13. März 2011 auf dem Grünen Demokratiekongress in Mainz. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Schlagwörter: Demokratie, Harald Schumann, Konzerne, Korruption, Manipulation, Parlament, wirtschaftliche Macht