14. Jahrgang | Nummer 13 | 27. Juni 2011

Uwe Johnson in Sheerness-on-Sea

von Mathias Iven, London

Ein Zimmer, ein Tisch. Eine Flasche Rotwein, zwei Korken. Eine Brille, Zeitschriften, Papiere, das Fernsehprogramm. Eine aus Ebenholz geschnitzte Katze. Getrocknetes Blut auf dem Fußboden, an der Wand eine Karte von Mecklenburg. Uwe Johnsons Sterbeort.

Im Jahre 1967 begann Uwe Johnson mit der Arbeit an den Jahrestagen. Sie sollten ihn endgültig zu einem der ganz Großen der deutschen Gegenwartsliteratur machen. Die ersten Bände erschienen 1970, 1971 und 1973. Johnson erhielt den Büchner-Preis, 1975 den Wilhelm-Raabe-Preis und vier Jahre später den Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck. Er wurde allseits gefeiert. – Ganz anders im Privaten. Im Frühsommer 1978 hatten sich Johnson und seine Frau getrennt. Damit einher ging eine schwere persönliche Krise. Johnsons Schaffensdrang versiegte. Schreibhemmung. Jahrelang lenkte er sich mit anderen Projekten ab, so mit dem Fragment gebliebenen Prosastück Heute neunzig Jahr, einer „Art Nachwort“ zu den Jahrestagen. Erst 1982 setzte er die Arbeit am vierten Band fort. Im April des folgenden Jahres war das Manuskript endlich abgeschlossen. Sechzehn Jahre hatte es gedauert, das Leben der Gesine Cresspahl war erzählt …
Rückblende. „What brought you to Sheerness!“ Die Wahl des an der Themsemündung gelegenen Ortes rief bei Kollegen und Freunden nur ungläubiges Erstaunen hervor. Nach Berlin und New York nun also Südengland, die Isle of Sheppey als Lebensmittelpunkt? Siegfried Unseld, Johnsons Verleger, war entsetzt: „ … wie kann man hier wohnen, wie kann man hier schreiben wollen, in dieser heruntergekommenen Stadt, mit geringsten oder eigentlich keinen Möglichkeiten, das zu erhalten, was das äußere Leben lebenswert macht“.
Im Oktober 1974 hatten die Johnsons das direkt an der Uferpromenade von Sheerness gelegene Haus 26 Marine Parade bezogen. Im Aufbau erinnerte es Johnson an die Ende des 19. Jahrhunderts in New York erichteten brownstones – „tatsächlich etwa 1915 gebaut, auch in dichter Reihe stehend, aber verputzt und weiß gestrichen“, wie er Max Frisch mitteilte. Als ein paar Jahre später vor dem Haus eine Mauer gegen mögliche Überflutungen errichtet wurde, hatte man nur noch aus den obersten beiden Stockwerken einen Blick auf das Meer. Johnson störte das nicht. Er arbeitete bei geschlossenen Fensterläden im Souterrain. Hier hatte er sein Archiv eingerichtet, hier versuchte er sich zu erinnern, zu erinnern an seine mecklenburgische Heimat, von der er nicht loskam.
Sheerness – bis heute eine trostlose Stadt. Johnson trank. Im „Napier“, dem nur wenige Schritte von seinem Haus entfernten Pub, und in der Bar des Hotels „Seaview“ nannten ihn alle nur „Charles“ oder „Charlie“. Er war der Nachbar von nebenan, ein „private man“, nicht der umjubelte Büchner-Preisträger. Jeden Abend tauchte er auf, setzte sich an die Bar, schwieg und beobachtete die Leute. Gegen neun die obligatorische Bloody Mary. Dann ging er nach Hause, trank weiter, meist spanischen Rotwein.
März 1984. Seit längerem war „Charles“ von niemand mehr gesehen worden. Als man sein Haus gewaltsam öffnete, fanden sich die schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Johnson war einem Herzinfarkt erlegen. Ob in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar, vielleicht auch schon am Tag davor – man weiß es bis heute nicht. Sein Totenschein trägt das Datum des 12. März 1984.