14. Jahrgang | Nummer 13 | 27. Juni 2011

„Entkopplung“ – der Weg zu „nachhaltigem Wachstum“?

von Frank Adler

„Entkopplung“ ist ein zunächst harmlos technisch klingendes Wort. Aber der Schein trügt. Es ist Thema einer zentralen Kontroverse im neuen wachstumskritischen Diskurs. Welche Chancen diesem technischen Weg aus der Ökokrise eingeräumt werden, daran scheiden sich die Geister in der Debatte um ökologische Grenzen des Wirtschaftswachstums.
Bezeichnet wird mit „Entkopplung“ ein ganzes Bündel von vorwiegend technologischen Strategien (zum Beispiel „Effizienzrevolution“), die darauf abzielen, den Umweltverbrauch, also die Belastung durch Ressourcenentnahme und Emissionsabgabe, pro Einheit Wirtschaftleistung zu senken. Es geht um eine höhere „Ökoeffizienz“ durch rationelleren Einsatz von Energie, Material und durch naturverträglichere Stoffe und Technologien. Dass eine solche relative Entlastung der Natur möglich und wünschenswert ist, wird kaum bestritten, ebenso, dass hier noch viele Potenziale brach liegen. Was aber gebraucht wird, um die globale Wirtschaftsaktivität innerhalb ökologischer Grenzen –soweit wir sie überhaupt kennen – zu halten, ist eine absolute Entlastung der Umwelt. Um es am prominentesten „Fall“ zu illustrieren: Die globalen CO2-Emisssionen müssen bis 2050 in den entwickelten Industrieländern um 80 bis 90 Prozent reduziert werden, soll das Stabilisierungsziel von (durchschnittlich!) zwei Grad Celsius globaler Erwärmung eingehalten werden. (Selbst diese Ziel-Marke ist riskant und nimmt verschlechterte Lebensbedingungen für Millionen Menschen in den ärmeren Regionen – wie etwa in der Sahel-Zone Afrikas in Kauf.)
Die Gretchenfrage ist deshalb: Können Umweltverbrauch und Wirtschaftsleistung so weit beziehungsweise absolut entkoppelt werden, so dass sich auch eine Welt mit wachsender Wirtschaft und Bevölkerung dauerhaft innerhalb ökologischer Leitplanken bewegt?
Entkopplungs-(= Technik- und Wachstums-)Optimisten bejahen dies. Für sie ist es realistisch, dass die Ökoeffizienz ständig schneller wächst als die Wirtschaftsleistung. Wirtschaftswachstum wäre dann ökologisch neutral, somit fortsetzbar, es könnte „nachhaltig“ werden, zumindest würden seine ökologischen Grenzen in weiter Ferne liegen. Ökologisch argumentierende Kritik am Wirtschaftswachstum, den damit korrespondierenden gesellschaftlichen Strukturen („Wachstumszwang“) und „ressourcenschweren“  Wohlstandsmodellen und Lebensstilen wäre gegenstandslos.
Ihre Hoffnung stützen die Entkopplungsoptimisten vor allem auf bisherige erfolgreiche Umweltentlastungen durch technischen Fortschritt. So wurde zum Beispiel in den letzten drei bis fünf Jahrzehnten die Menge an Primärenergie pro Einheit weltweiter Wirtschaftsleistung um circa ein Drittel reduziert. Ähnliches gilt für die Materialintensität. Die verbesserte Effizienz im Umgang mit natürlichen Ressourcen ermöglichte auch eine verringerte CO2-Intensität. Solche Tendenzen könnten – politisch forciert und ökologisch gerichtet zum Beispiel im Rahmen eines „Green New Deal“ – dank der Triebkräfte entwickelter kapitalistischer Marktwirtschaften zu einer neuen Welle „grüner“ technologischer Innovationen und einer „grünen“ industriellen Revolution gebündelt werden. Die Vision derer, die so argumentieren: eine Kreislaufwirtschaft, die sich aus erneuerbaren, letztlich solaren Energiequellen speist und keine oder biologisch abbaubare Abfälle zeitigt, da sie auf die Natur nachahmenden Technologien (zum Beispiel Bionik) basiert. „Wachsen mit der Natur“ (Ralf Fücks) als Prinzip technisch-ökonomischer Entwicklung. Auch dafür gibt es Beispiele, wie etwa der technisch imitierte Lotus-Effekt, die Zucht von Shiitake-Pilzen auf Kaffeesatz oder Chemieparks, in denen kaskadenförmig verschiedene Technologien abfallfrei vernetzt sind. Außerdem hätte die kapitalistische Produktionsweise schon ganz andere Metamorphosen bewerkstelligt. Man denke etwa an den Übergang von der extensiven zur intensiven Reproduktion mit jeweils unterschiedlichen Profitquellen oder an die Herausbildung des Sozialstaates. Warum sollte es dann nicht möglich sein, die bewährten Schubkräfte des Profitmotivs und der Konkurrenz umzulenken von der permanenten Steigerung der Arbeitsproduktivität auf  eine Erhöhung der Ressourcenproduktivität?
Entkopplungsskeptiker (=Wachstumskritiker) hingegen bezweifeln, dass es realistisch sei, aus den oben angedeuteten relativen Trends die Möglichkeit einer absoluten Entkopplung abzuleiten. Sie verweisen – wie jüngst der renommierte britische Umweltökonom Tim Jackson – vor allem auf die bislang unzureichenden absoluten Einsparungen. So sind die CO2-Emissionen heute um fast 40 Prozent höher als 1990, auch ist der absolute Materialverbrauch weltweit gestiegen. Nur in Zeiten der Rezession wurden in den Industriestaaten die CO2-Reduktionsziele erreicht. Unter „normalen“ Bedingungen jedoch, wurden bisher die Effizienzgewinne regelmäßig vom globalen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum „aufgefressen“. Geht man aus von einer Weltbevölkerung von neun Milliarden Menschen im Jahre 2050 und unterstellt für alle Erdenbürger ein Einkommen, wie es heute (!) die EU-Bürger im Durchschnitt haben, so müsste die Kohlenstoffintensität der Produktion fünfundfünfzigmal niedriger sein als jetzt, um die Zwei-Grad-Celsius-Marke des Weltklimarates mit akzeptabler Wahrscheinlichkeit nicht zu überschreiten. Bei einem angenommenen Wirtschafts- und Einkommenswachstum in den entwickelten Ländern von jährlich zwei Prozent ergibt das ansonsten gleiche Szenario eine nötige Reduktion der heutigen Kohlenstoffintensität um das 130-fache. Wächst die Weltbevölkerung auf elf Milliarden Menschen, so verschärft sich das Ganze nochmals. Und derartige Effizienzsteigerungen müssten bei anhaltendem Wirtschaftswachstum auch nach 2050 fortsetzbar sein, um die ökologischen Effekte einer im Jahre 2100 vierzigmal größeren Weltwirtschaft (bei einem angenommenen Wachstum von jährlich zwei Prozent) zu kompensieren.
Vor diesem Hintergrund werden Realitätsgehalt und Sinn einer absoluten Entkopplung  mit weiteren – physikalischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen – Argumenten in Zweifel gezogen. So wird etwa gefragt, wie lange es dauert, bis die Weltwirtschaft naturverträglich umgebaut ist, mit welchen neuen Ressourcenverknappungen und Risiken dieser Weg gepflastert ist und ob die sich „lohnen“.
Die Konsequenz von Entkopplungsskeptikern: Der technische Weg sei kein akzeptabler  Ausweg aus der Öko-Krise, eher eine riskant-illusionäre Fortschreibung bisheriger Muster. Unabdingbar sei vielmehr ein Ausstieg aus Wachstumszwängen, aus dem Dilemma: entweder fortgesetztes Wachstum mit verschärften ökologischen Risiken und deren potenziellen „Nebenwirkungen“(Ressourcenkonflikte, Migrationsströme et cetera) oder aber „Nullwachstum“, was unter den gegenwärtigen Verhältnissen jedoch mit ziemlicher Sicherheit zu ökonomischen und sozialen Instabilitäten führen würde. Deshalb seien tief greifende kulturelle, soziale und makroökonomische Transformationen der Weltwirtschaft und -gesellschaft unausweichlich, beginnend in den entwickelten Industriestaaten. Technologische Innovationen für eine bessere Naturverträglichkeit seien zwar ein wichtiger Steg in eine solche „wachstumsbefriedete“, ökologisch risikoarme Zukunft. Aber eine Brücke zu einer grenzenlos wachsenden Wirtschaft, die unendliche Quellen materiellen Wohlstands erschließe, könnten sie nicht sein.
Der Streit zwischen diesen beiden gegensätzlichen Positionen ist wissenschaftlich nicht zu entscheiden. Beide sind weder beweis- noch widerlegbar – allein schon, weil Zukunft per se offen ist, somit auch „technische Wunder“ nicht ausgeschlossen werden können. Beide Perspektiven reflektieren gesellschaftliche Alternativen, Zukunftsoptionen. Bei Pro und Contra spielen Interessen, Wertepräferenzen, kulturelle Trägheiten et cetera eine entscheidende Rolle.
Deshalb kann man auch grundsätzlicher fragen: Warum sollten wir – gemeint sind die entwickelten Industrieländer – eigentlich Wirtschaftswachstum fortsetzbar machen wollen? Erwiesenermaßen ist dies kein Weg zu mehr sozialem und persönlichen Wohlbefinden, in den letzten 20 Jahren eher zu mehr sozialer Ungleichheit samt ihrer problematischen Folgen. Und warum sollte es zum Beispiel nicht möglich sein, auch ohne Wachstum Erwerbsarbeitslosigkeit zu verhindern? Wie lange noch soll unser Wachstums-, Wohlstands-, Konsummodell Vorbild für die rasant zunehmende „globale Konsumentenklasse“ – insbesondere in den Schwellenländern – sein? Vor allem aber: Warum sollten wir Wirtschaftswachstum als eine Art Sachzwang wollen müssen? Wäre es einer Gesellschaft, die sich selbst als frei, offen und innovativ beschreibt, nicht angemessener, es zum Gegenstand gesellschaftlicher Diskurse, Entscheidungen, Reformen, zu machen, ob, was, wie viel, warum „wachsen“ soll? Ökologische Grenzen unseres Tuns anzuerkennen, beschränkt ebenso wenig die menschliche Kreativität wie der Rahmen des Bildes die schöpferische Phantasie des Malers.