von Hanns-Dieter Rutsch
Wir telefonieren regelmäßig. Aber es ist nicht einfach, ihn zu erwischen. Rolf Losansky ist mit seinen achtzig Jahren unterwegs, nahezu rastlos. Mit Filmbüchsen unter dem Arm und DVDs in der Tasche zieht er durch Europa, wird eingeladen zu Festivals, hat volle Zuschauersäle, wird mit Preisen geehrt und muss anschließend versprechen, demnächst wiederzukommen. Mit seinen Filmen für Kinder. Drei entstanden noch nach dem Ende der DEFA. Es könnten noch mehr sein. Losansky würde sofort wieder zum Drehen raus fahren. Er könne nichts machen gegen diese Lust, er hänge nun mal so an diesem Beruf. Aber man lasse ihn nicht mehr, fügt er mit spöttischer Stimme hinzu. Darum schreibe er eben zusammen mit Christa Kozik Theaterstücke. Wo sie inszeniert werden, klingeln in den Theaterhäusern die Kassen.
Das alles passiert im Medienzeitalter, in dem Kinder überschüttet werden mit Angeboten, am Computer oder im Kino in abenteuerlichster Geschwindigkeit durch fantastische Welten zu rasen. Die Filme, die Losansky im Gepäck hat und die mit stürmischem Applaus bedacht werden, sind alles andere als clipartig montiert. In ruhiger, manchmal dokumentarisch erzählender Art werden die Geschichten zusammengesetzt. Die Kamera wagt, auf einem Gesicht stillzustehen und eine Regung einzufangen. Ein Seufzer vor der Kamera ist ein Seufzer und darf es sein. Und dann darf die Kamera auf dem Gesicht dessen, der da geseufzt hat, noch verweilen. Wer traut sich das heute noch? Es geht im Fernsehen um Quoten und im Kino um zahlende Besucher. Die wollen was erleben! Die Sehgewohnheiten hätten sich geändert, argumentieren Redakteuren und Verleiher.
Losanskys Filme sind alles andere als brandneu. „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“ wurde vor fast fünfzig Jahren nach einer Erzählung von Franz Fühmann gedreht. Im Mittelpunkt stehen Kinder eines Kinderheimes, die jeden Morgen vom Gesang eines wunderbunten Vogels geweckt werden. Als der eines Tages nicht mehr da ist, beginnt die große und schließlich sehr gefährliche Suche nach dem Lieblingsvogel. Der Plot ist erahnbar: Die Kinder finden erst in äußerster Gefahr eine Spur und in letzter Minute das Vögelchen mit dem wunderbaren Gesang. Bereits in diesem Film entdeckt Losansky den Schlüssel zu seinem lang anhaltenden Erfolg als Regisseur: Er erzählt alle Geschichten konsequent aus der Perspektive der Kinder, aus ihrer Lust am Leben und mit ihrem Kummer an der Welt. Vor allem: Losansky solidarisiert sich so immer wieder mit den großen und kleinen Träumen seiner Zuschauer. Und da Kinder auch heute Träume haben, entdecken sie sich in den Filmen von damals wieder. Sie haben mit ihrer Erfahrung Platz in ihnen. Nun erlebt bereits die dritte Generation Losankys Filme.
In der DDR löste das Verfolgen solcher Prinzipien filmischen Gestaltens nicht immer Freude bei der Obrigkeit aus: Kinder galten dieser eher als unfertige Menschen, die im Regelfall erst durch Erziehung und Bildung zu sozialistischen Persönlichkeiten geformt würden. Losansky sah das immer anders. Im „Langen Ritt zur Schule“ sehnt sich der kleine Alex vor dem Fernseher, auch einmal solche Abenteuer wie die Cowboys hinter der Mattscheibe zu bestehen. Da geschieht ein Wunder: Die Cowboys klettern aus der Bildröhre und nehmen Alex mit in ihre Welt. Schließlich kämpft Alex erfolgreich an der Seite von DDR-Chefindianer Gojko Mitić. Doch Losansky belässt es nicht bei der Befriedigung von Abenteuerlust. Er vermischt die Handlungsebenen des Films: Auch die sozialistische Schule des kleinen Alex wird Arena heftigster Auseinandersetzungen. Lehrer und Direktor der Schule trauen ihren Augen nicht, als dabei die heilige Ordnung außer Kraft gesetzt wird. Eine Folge: Der Film entstand gegen den Willen des Ministeriums für Volksbildung in der DDR. Die Ministerin für Volksbildung Margot Honecker erklärte: Unsere Kinder träumen nicht davon, einmal Cowboy zu sein. In einem kulturpolitischen Tauwetterloch wurde der Film dann doch produziert, durfte aber nicht in Gera auf dem „Goldenen Spatz“, dem Kinderfilmfestival der DDR, gezeigt werden. Losansky hat das als Demütigung empfunden.
1963 bot die DEFA-Direktion dem in Frankfurt an der Oder geborenen Regisseur einen festen Vertrag an. Losansky griff zu und arbeitete nun Jahr für Jahr für und mit Kindern vor der Kamera. Manche der Arbeitsbedingungen waren im Vergleich zu heute exquisit. Der Regisseur konnte unter tausenden von Kindern seine Filmkinder auswählen und anschließend in Probeaufnahmen testen, ob die Kinder seine Vorstellungen erfüllen konnten. Dabei gab es eine staatliche Bedingung: Kinder durften nur einmal in einer Hauptrolle besetzt werden und keinesfalls in die Situation kommen, als Star vermarktet zu werden. Eine Folge: Die meisten Filmkinder „landeten“ später in ganz „normalen“ Berufen.
Nach und nach entdeckten Kollegen der DEFA die Möglichkeiten, aufwendige Trickaufnahmen mit relativ einfachen Mitteln zu realisieren. Die ständig klammen Devisenkassen der DEFA standen dem Kinderfilm nicht zur Verfügung. So mussten sich die Babelsberger Filmemacher selbst behelfen. Kompliziert wurde es für Losansky, als er den Filmstoff „Ein Schneemann für Afrika“ auf den Tisch der DEFA Direktion legte. Die Antwort war eindeutig: unrealisierbar wegen Devisenmangel. Mit Freunden fand Losansky ein Schlupfloch: Er heuerte mit einem kleinen Drehstab bei der Handelsflotte der DDR an und drehte den Film während einer ganz normalen Schiffspassage. Dass er weder für die angelaufenen Häfen noch für die dahinter beginnenden Staaten eine Drehgenehmigung besaß, sieht man dem Film heute nicht an. Was aber für eine Idee: Den Kindern in Afrika etwas zu bringen, was für sie nur eine Utopie sein kann – einen Schneemann.
Im Mai dieses Jahres bin ich mit Rolf Losansky verabredet, um zusammen nach Erfurt zu fahren. Zum Kinderfilmfestival „Goldener Spatz“. Bei der Fahrt über die Autobahn erzählt er von den Anfängen des Kinderfilmfestivals in Gera. (Erfurt kam erst in den neunziger Jahren dazu.) Es tut gut, dem Mann mit dem großen Schnurrbart und dem Schalk in den Augen zuzuhören. Er hat das Festival mit seinem Gespür für Kinderfilme und mit seinem Gefühl für das jeweils Machbare geprägt. Auf ihm vergeben Kinder von Anfang an in einer eigenen Jury Preise. Bis zum Ende der DDR waren das aber niemals die Hauptpreise. Die konnte nur eine kompetente Fachjury vergeben. „Was diese Fachleute alles über Filme geredet und gewusst haben. Oft haben sie die Filme zerredet“, klagt Losansky bis heute
1991, als die Existenz des Festivals gefährdet ist, stellt sich der Regisseur als Präsident zur Verfügung und setzt in dieser existenziellen Situation durch, das von nun an alle Hauptpreise von Kindern vergeben werden. Selbst gute Freunde rieten ihm damals ab, diese Idee zu verfolgen. Alle Einwände kreisten immer wieder um ein Argument: Kindern fehle der Sachverstand. Nein, sagte Losansky immer wieder. Nein. Nein. Nein. Und setzte sich durch. Heute entsenden alle Bundesländer Kinder in die Jury des „Goldenen Spatzen“. Neuerdings sind auch Kinder aus Luxemburg und Lichtenstein vertreten. Diese Art der Preisvergabe wurde zu seinem Alleinstellungsmerkmal.
In Erfurt angekommen, kann Losansky noch ungehindert aus dem Auto steigen – dann aber ist Schluss mit der Zeit zum Schwatzen. Regisseure, Produzenten, Journalisten, Autoren und die heutigen Festivalmacher fallen Losansky bildlich und wortwörtlich um den Hals. Nicht alle taten das früher, erinnert sich der Achtzigjährige. Aber denen mache er ein Gesicht aus „Fröhlichsein und Singen“.
In diesem Jahr erhielt Rolf Losansky den „Goldenen Spatz“ für sein Lebenswerk, und im Kinosaal erhob sich als erstes die Kinderjury und applaudierte zur Auszeichnung; das erwachsene Publikum schloss sich an. Der Filmpublizist Klaus Dieter Felsmann fasste in sehr persönlichen Worten zusammen, was an den Filmen von Losansky so Besonderes ist: „Sie sind mit großer Liebe zu Kindern gemacht!“
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