von Sandra Beyer
Ueno ist nicht der hübscheste Park, den Tokyo zu bieten hat, er ist jedoch einer der größten der Hauptstadt. Er sollte schon deswegen auf der Liste eines jeden Besuches der Megalopolis stehen. Zudem befinden sich an seinem Nordende die großen staatlichen Museen zur Geschichte und Kultur Japans. Wegen ihrer Größe und ihrer zurückgenommen Art sind diese Museen eine Oase in einer Stadt, in der die Besucherin nie allein ist. Im Nationalmuseum laufen nur wenige Menschen an den vergoldeten Statuen der Buddhainkarnationen aus Holz vorbei. Nur besonders Kunstinteressierte verirren sich hierher. Die staatlichen Museen Tokyos ähneln allerdings in ihrer Konzeption und Anlage den großen Häusern anderer Hauptstädte der Welt. Dies verwundert nicht, wurden sie doch nach der Öffnung zum Westen in historisierenden Gebäuden angelegt. Auch kulturell wollte sich Japan modernisieren und nahm die Bildung des Volkes in Geschichte und Kunst in Angriff. Für einen Zugang zu Japan sind diese verwestlichten Museen ein guter Einstieg.
Am Südende des Parks befindet sich das Archiv der Unterstadt Tokyos, der Shitamachi. Will die Besucherin diesen Ort entweder von den staatlichen Museen oder vom Bahnhof der Ringbahn erreichen, muss sie den Park durchqueren oder bis Shimobazu-See laufen. Beide Wege sind durch ihre Aussichten auf die bunte Welt der Hauptstadt geprägt. Entlang der blauen Plastikplanen, die den Obdachlosen als Behausung dienen, schlendern Paare und Familien besonders gern am Wochenende. Militärische Übungen der Feuerwehr oder die Essensausgabe der christlichen Organisationen an die überwiegend männlichen Obdachlosen bieten dazu einen starken Kontrast. Gerade die Heilsarmee sammelt die Menschen und lässt sie in Reih und Glied erst beten, bevor sie diesen Mahlzeiten austeilt. Sonst verbringen die Männer den Tag mit Lesen, Schachspielen und Schlafen. Die Bevölkerung nimmt sie meist nicht wahr. Durch eine kleine Straße an einem Pornokino vorbei gelangt die Besucherin an den See und somit zum Museum.
Als die heutige Hauptstadt Japans sich im 17. Jahrhundert aus einem unbedeutenden Fischerdorf zu der mächtigen Shogunatshauptstadt Edo entwickelte, siedelten sich am Fuße der Burg und neben den Fürstenpalästen die Händler und Handwerker an. Diese Stadtbevölkerung, die sich in der konfuzianischen Lehre nach den Bauern, Priestern und Kriegern am Boden der Hierarchie wieder fand, zahlte ihre Abgaben nicht mit Reis, sondern mit Geld. Die Entfernung von der ideellen Grundlage der japanischen Gesellschaft machte sie zu wichtigen Stützen des feudalen Staates, aber auch zu Zielscheiben von Hass und Übergriffen in Zeiten von wirtschaftlichen Umbrüchen. Das Museum, das die Lebensverhältnisse des Kleinbürgertums zeigen möchte, ist zweistöckig und wirkt klein gegenüber den Hochhäusern der Umgebung. Ältere Freiwillige, die sich auch in anderen Museen der nicht-japanisch aussehenden Menschen annehmen, führen kostenlos in einer liebevollen Mischung aus Englisch und Japanisch durch die Räume und beantworten gern Fragen. Sie entspannen sich jedoch sichtlich, wenn sie in ihrer Muttersprache reden dürfen. Das Archiv für die Altstadt Tokyos bewahrte eines der Langhäuser, die bis zum Großen Erdbeben 1923 üblich in der Gegend um Ueno waren, vor dem Abriss und baute es im Erdgeschoss wieder auf. Diese einstöckigen Häuser haben eine Front in Richtung Straße, die einen großen Laden beherbergt. Um einen lang gezogenen Hinterhof reihen sich dann kleinere Läden und Handwerkerstuben mit einem weiteren Raum für die Familie. Oft lebten fünf oder mehr Menschen auf weniger als zehn Quadratmeter. Brunnen und Sanitäranlagen teilten sich die Mietparteien. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden zweistöckige Häuser entlang größerer Hinterhöfe gebaut. Nichtsdestotrotz fielen gerade die Quartiere der Unterstadt wegen ihrer Enge und Holzbauweise den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg zum Opfer.
Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts behandelt auch das Edo-Tokyo-Museum an der Station Ryogoku, gleich in der Nähe der staatlichen Sumo-Halle. In Form einer Holzsandale, der Geta, ragt dieses Museum sieben Stockwerke in die Höhe. Die Rolltreppen sind nichts für Menschen mit Höhenangst, und auch Erdbeben lassen dieses Museum nicht die als beste kulturelle Option erscheinen. Es ist zu keiner Zeit im Jahr oder am Tag leer: Schulklassen toben wochentags und Familien am Wochenende durch die große, abgedunkelte zweistöckige Halle. Über den Nachbau einer Brücke, die auch heute noch wegen ihrer Größe und den städtischen Menschenmassen als Inbegriff des Edo des 18. Jahrhunderts gilt, erreicht die Besucherin die Geschichte des Fischerdorfes. Miniaturen der Straßenzüge und Paläste, die nach dem Umzug der neuen Shogunatsregierung aus der Umgebung um Kyoto nach Edo entstanden, lassen die städtische Atmosphäre wiederauferstehen. Edo sollte eine Stadt auf dem Reißbrett werden, doch gerade die Hinterhöfe wuchsen wilder, als es sich die Regierung wünschte. Erdbeben, Feuersbrünste und Fluten suchten die Stadt immer wieder heim und veränderten sie. Lebensgroße Nachbildungen eines Kabukitheaters, des Vorläufers des heutigen Mitsukoshikaufhauses auf der Ginza, ein Klassenzimmer vom Beginn des 20. Jahrhunderts und Transportmittel machen dieses Museum zu einer Erlebniswelt gerade für Schülerinnen und Schüler. Die Erklärungen sind auf Japanisch, mit einigen Einführungen auf Englisch. Besonders ausführlich werden neben der Entwicklung zur modernen Großstadt die Auswirkungen des Großen Kantoerdbebens von 1923 gezeigt, als viele städtebaulichen Maßnahmen wie die Nutzung von Backstein sich als nutzlos erwiesen. So stürzte die Ginza, die sich von der Münzprägestraße Edos zur Fleetstreet Tokyos entwickelt hatte, komplett in sich zusammen. Heute ist sie eine der wohl berühmtesten Einkaufsmeilen der Welt. Nachwirkungen des Bebens wie die tausende Lynchmorde an der koreanischen Bevölkerung als Sündenbock für die ausgebrochenen Feuer werden dagegen nur auf Englisch erzählt.
Veränderungen der japanischen Gesellschaft nach dem ersten Weltkrieg zeigen die Kürze der Röcke und das in die Höhe schnellende Heiratsalter der jungen Frauen an. Der Frauenbewegung nach 1900 wird im Museum Platz eingeräumt. Jedoch werden die 20 Jahre nach dem Erdbeben verkürzt dargestellt. Es scheint, als würde auf eine Naturkatastrophe unmittelbar eine weitere folgen. Die Militarisierung der Politik wird erwähnt, auch die Kriegsvorbereitung der Zivilbevölkerung, jedoch bleiben Ursachen der flächendeckenden Bombardierungen des Großraumes Tokyo im Zweiten Weltkrieg seltsam unklar. Die Zerstörungen werden eindrücklich durch Filme, Zahlen und Tafeln verdeutlicht, doch die Menschen verschwinden hinter dem großen Begriff des pazifischen Krieges. Es scheint, als wäre dieser eine weitere Katastrophe, die Tokyo überleben musste.
Die Benennung von Ursache und Wirkung des Zweiten Weltkrieges, der in Asien von 1930 bis August 1945 dauerte, muss durch die privaten Museen in Osaka, Kyoto und die staatlichen in Hiroshima und Nagasaki erfolgen. Das Friedensmuseum in Osaka liegt einen Steinwurf vom Geschichtsmuseum entfernt und versucht dessen einseitige Sichten auszubalancieren. Im Nordosten der ehemaligen Kaiserhauptstadt Kyoto befindet sich das Museum für den Weltfrieden der linksliberalen Privatuniversität Ritsumeikan. Mit schonungsloser Bebilderung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zeigen diese Museen der eigenen Bevölkerung die Gründe für die Zerstörung japanischer Städte – ohne diese entschuldigen zu wollen.
Doch einen kleinen Schönheitsfehler haben auch diese Museen für die Ohren der Besucherin; sie beginnen mit lauten Filmen, die in Endlosschleifen an den Nerven zerren. Selbst im seltenen Fall, allein in einem japanischen Museum sein zu können, scheint die Beschallung durch menschliche Stimmen und laute Musik nicht aufhören zu wollen. Museen in Japan sind eine Herausforderung für die Sinne und den Verstand.