von Peter Schönhöfer
Auf Drängen der Pharmaindustrie wurden in den 1980er und 1990er Jahren die Arzneimittelgesetze der Industrieländer harmonisiert, damit für die Zulassung von Arzneimitteln und für die Überwachung der geltenden Gesetze einheitliche Maßstäbe gelten. Deshalb sind für Warenanbieter in allen Industrieländern die Usancen des kriminellen Marketings wie Kauf von Experten, Bestechung/Kickbacks bei Ärzten, irreführende Angaben zu Wirksamkeit, Anwendungsgebieten, Sicherheit und Kosten von Arzneimitteln illegal und strafbewehrt.
In den USA werden zunehmend Pharmafirmen für Falschangaben zu Arzneimitteln (False Claims Act) oder für irreführende Kostenangaben gegenüber staatlichen Fürsorgeeinrichtungen bestraft. In den letzten fünf Jahren (2006 bis 2010) mussten Pharmafirmen insgesamt 14,8 Milliarden US-Dollar Strafe zahlen. Die wesentlichen Straftäter sind (Strafe in Milliarden Dollar, Strafgrund kriminelles Marketing bei den genanntem Arzneimittel):
2006 GlaxoSmithKline 3,40 wegen Steuerhinterziehung
2009 Pfizer 2,30 wegen BEXTRA und anderen
2009 Eli Lilly 1,40 wegen ZYPREXA
2010 GlaxoSmithKline 0,75 wegen Herstellungsfehler
2008 Merck-US (MSD) 0,65 wegen VIOXX und anderen
2007 Purdue 0,60 wegen OXYGESIC
2010 Allergan 0,60 wegen BOTOX
2010 AstraZeneca 0,52 wegen SEROQUEL
2007 BristolMyersSquibb 0,52 wegen ABILIFY und anderen
Dagegen gibt es in Deutschland gegen keinen dieser Hersteller Strafverfahren, obwohl dieselben Marketingmethoden angewandt werden.
Ein Beispiel: das Schmerzmittel VIOXX. Auch in Deutschland wurden Informationen zu Herzinfarkten unter VIOXX unterdrückt. In den USA musste der Hersteller zusätzlich zu den 650 Millionen Dollar Strafe auch noch 4,85 Milliarden Dollar Schadensersatz an geschädigte Patienten zahlen. In Deutschland sind bisher noch keine Schadensersatzklagen von Patienten mit Herzinfarkt unter VIOXX positiv entschieden worden.
Auch im Falle des antipsychotisch wirkenden Psychopharmakons ZYPREXA betrieb der Hersteller in den USA ebenso wie in Deutschland gezielt Falschinformation über die Anwendungsgebiete und unterdrückte die Information über die gefährlichen Störwirkungen des Arzneimittels. Der Hersteller Eli Lilly weitete die Anwendungsgebiete zwecks Absatzsteigerung aus und unterschlug, dass das Mittel schwerste Stoffwechselstörungen wie Zuckerkrankheit, lebensbedrohliche Überzuckerung und Gewichtszunahmen auslösen kann. In den USA wurde er dafür mit einer Strafe von 1,4 Milliarden Dollar belegt und musste geschädigten Patienten 4,6 Milliarden Dollar Entschädigung zahlen. In Deutschland wurden die gleichen Marketingmethoden praktiziert, aber der Hersteller wurde weder bestraft noch wurden deutsche Patienten entschädigt, die durch ZYPREXA erkrankten.
Nicht nur auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung innovativer Wirkstoffe, sondern auch beim Schutz der Patienten vor den Gefahren der Falschinformation über Wirksamkeit und Risiken von Arzneimitteln hinkt Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern deutlich hinterher. Das gilt insbesondere für das Haftungsrecht, das Patienten vor Schäden durch unwirksame und gefährliche Arzneimittel schützen soll. Immer noch steht die Forderung nach Beweislastumkehr im Raum: Die Gefährdungshaftung nach § 84 des Arzneimittelgesetzes schützt eher die Hersteller vor den Haftungsansprüchen geschädigter Patienten als Geschädigte vor den schlechten oder gefährlichen Produkten der Hersteller.
Weil durch die einseitige politische Begünstigung der Herstellerinteressen kein administrativer Druck zur Qualitätsverbesserung auf die Pharmaindustrie ausgeübt wird, scheiden Deutschland und seine Pharmaindustrie – so weit überhaupt noch vorhanden – zunehmend aus dem internationalen Konzert der Bemühungen um Innovationen und Maßnahmen zur Verbesserung der Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln aus. Das ist eine der Hauptursache für den Verfall der deutschen Pharmaindustrie.
Quelle – Public Citizen’s Health Research Group: Rapidly Increasing Criminal and Civil Monetary Penalties Against the Pharmaceutical Industry 1991 to 2010 (www.citizen.org/documents/rapidlyincreasingcriminalandcivilpenalties.pdf)
Erstveröffentlichung in Scheinwerfer, Zeitschrift von Tranparency International Deutschland (TID). Übernahme mit freundlicher Genehmigung von TID und des Autors.
Schlagwörter: Peter Schönhöfer, Pharmaindustrie, Tranparency International, VIOXX, ZYPREXA