von Hermann-Peter Eberlein
Einen bemerkenswerten Vortrag hat Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung und zugleich Honorarprofessorin für Katholische Theologie, Anfang Mai unter dem Titel „Gottesbezug als Freiheitsimpuls. Zur freiheitsstiftenden Kraft von Religion in modernen Gesellschaften“ vor einem handverlesenen Publikum an der Freien Universität Berlin gehalten. Bemerkenswert deswegen, weil hier eine Frau die positiven Seiten einer Trennung von Kirche und Staat hervorhebt, die, heute CDU-Politikerin, einst als Abteilungsleiterin in Diensten des Bistums Aachen stand und über ein Jahrzehnt Vizepräsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken war, den Filz zwischen Staat und Kirchen in unserem Land also in ihrem eigenen Leben repräsentiert. Daran wird es wohl liegen, dass die Fülle richtiger Beobachtungen, die Schavan ausbreitet, nicht zu den richtigen Konsequenzen führt.
Schavan beschreibt die „doppelte Emanzipationsbewegung“ von Staat und Religion im modernen Europa, die beiden Teilen gut getan habe: Erst seither ist der Glaube des Einzelnen nicht mehr Gegenstand staatlicher Beurteilung; erst seither gelingt die friedliche Existenz verschiedener Konfessionen; erst seither garantiert der Staat auch die Freiheit zum Unglauben. Schavan verhehlt nicht, wie mühsam diese Bewegung war, wie viel Blut sie gekostet hat, wie heftig sich Staat wie Kirchen gegen sie gewehrt haben. Dabei kann sich auch der Glaube erst in Freiheit von staatlichen Zwängen eigentlich voll entfalten. In Deutschland freilich ist der von Schavan beschriebene Emanzipationsprozess nicht wirklich zu seinem Ende gekommen. Die beiden großen Volkskirchen (und manche kleine Gemeinschaften) genießen – ohne staatliche Aufgaben wahrzunehmen – aufgrund des Weimarer Kirchenkompromisses von 1919 den Status von Körperschaften öffentlichen Rechtes. Konkordate und Staatskirchenverträge regeln das Miteinander; die theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten mit kirchlichem Vetorecht bei Lehrstuhlbesetzungen sind garantiert; Theologen und Kirchenfunktionäre sitzen in Rundfunkräten und Ethikkommissionen; der Religionsunterricht an staatlichen Schulen wird (außer in Bremen) konfessionell erteilt; Standortpfarrer und Geistliche an Justizvollzugsanstalten werden vom Staat bezahlt; kirchliche Kindergärten und Krankenhäuser erhalten erhebliche öffentliche Zuschüsse.
Dieses spezifisch deutsche, letztlich aus dem von Otto I. begründeten Staatskirchentum herrührende System einer engen Kooperation von Staat und Kirche hat für beide Seiten durchaus Vorteile. Die Kirchen genießen ihre Privilegien und haben erheblichen politischen Einfluss. Der Staat hat es mit einem Gegenüber zu tun, das relativ gesellschaftskonform ist: Die beiden großen Kirchen akzeptieren – wenn auch erst seit ein paar Jahrzehnten – die Demokratie als Staatsform und unterscheiden sich in ihren Werten nur in Randbereichen (Abtreibung, Euthanasie, Präimplantationsdiagnostik, bei den Katholiken kommt noch die Sexualmoral hinzu) vom Mainstream der Gesellschaft. Sie sind nicht fundamentalistisch, der Kreationismus findet in ihnen, wie in der gesamten deutschen Gesellschaft, kaum Anhänger. Die wissenschaftliche Theologie ist nicht zur Sektenideologie verkommen, sondern arbeitet verstärkt interdisziplinär im Spektrum der Geistes- beziehungsweise Kulturwissenschaften. Der große Pferdefuß des deutschen Systems aber ist die Unfreiheit für beide Seiten. Die Kirchen können in manchen Bundesländern niemanden zum Bischof weihen, der nicht von der Landesregierung akzeptiert wird. Der Kultusminister kann keinen Theologieprofessor ernennen, der der jeweiligen Kirche nicht genehm ist. Theologie muss konfessionell betrieben werden, obwohl der wissenschaftliche Diskurs mindestens in den historischen Disziplinen solche Begrenzungen überhaupt nicht mehr kennt. Kirchliche Angestellte genießen als Mitarbeiter eines Tendenzbetriebes deutlich geringeren arbeitsrechtlichen Schutz als Beschäftigte anderer Betriebe.
All das kann auch Annette Schavan nicht im Rahmen der „doppelten Emanzipationsbewegung“ verorten. Stattdessen wird – vor allem mit Blick auf den Islam – in schwammiger Terminologie eine positive Beziehung der Gläubigen zum Staat angemahnt: „Der Staat, der Freiheit gewährt, baut auf die moralische Substanz seiner Bürger. Damit ist die Erwartung eines gesellschaftlichen Klimas verbunden, in dem diejenigen, die sich zu einer Religion bekennen, die Weltlichkeit des Staates nicht als etwas Fremdes betrachten, sondern als die Chance der Freiheit. Erwartet wird ein konstruktiver Beitrag, nicht die Position eines fremdelnden Gegenübers.“ Was aber, wenn ein weltlicher Staat gar nicht im Sinne der religiösen Überzeugung ist? Das ist eben kein ausschließlich islamisches Problem, das galt zu Beginn der Moderne etwa noch für das theokratisch verfasste Genf Calvins, steckt mithin tief auch in christlicher Überlieferung und Überzeugung. Es kann jederzeit wieder aufbrechen. Und es wird in Resten gerade im spezifisch deutschen Miteinander von Staat und Kirche virulent. Am gefährlichsten scheint mir im Moment der große Einfluss zu sein, der den beiden Großkirchen mit ihrer radikalen Ablehnung der Präimplantationsdiagnostik zugestanden wird. Hier soll einer Gesellschaft unter dem Vorwand eines selbst zugelegten ethischen Wächteramtes eine Moral aufgezwungen werden, die großen Teilen dieser Gesellschaft zu streng ist und die ihnen von ihrer theonomen Begründung her prinzipiell unzugänglich bleiben muss. Es passiert genau das, was Schavan wohl nur zum Schein abzulehnen vorgibt: dass sich der Staat nach den Bischöfen richtet.
Doch Schavan ist an noch einer anderen Stelle inkonsequent, wenn sie die Weltlichkeit des Staates preist, nämlich beim Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes. Der Bezug auf die „Verantwortung vor Gott“ weise den Staat in seine Grenzen und mache zugleich die freiheitsstiftende Kraft der Religion deutlich. Nun steckt in der jüdisch-christlichen Tradition – ob in egal welcher Religion, wie Schavan behauptet, entzieht sich meiner Beurteilung – tatsächlich eine freiheitsstiftende Kraft, die Utopien aus sich herauszusetzen vermag: Den Anfang der jüdischen Glaubensgeschichte bildet die Befreiung hebräischer Sklaven aus Ägypten, die Basis christlicher Ethik die paulinische Erkenntnis „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ Das kann aber nicht das Argument sein, wenn es um die Grenzen des Staatlichen geht. Die nämlich sind zunächst nicht von einem geschichtlichen Freiheitsimpuls, auch nicht durch die Ethik, sondern von der Natur gesetzt. Dem Staat als einer Form menschlicher Vergesellschaftung liegen die natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens unverfügbar voraus. Wie sehr wir auch eingreifen mögen in das Klima oder den menschlichen Organismus: Die Drehung unseres Planeten, der Unterschied von Tag und Nacht, Tornados und Tsunamis, Erdbeben und Vulkanausbrüche, die Sterblichkeit jeden Lebewesens, Atmung und Verdauung – all das liegt jeder staatlichen Ordnung zuvor und begrenzt sie. Totalitär in dem Sinne, dass er das ganze Leben bedingte und regelte, kann ein Staat nie wirklich werden. Seine Macht endet oft schon an der Toilettentür. Jeder Wetterbericht relativiert die politischen Nachrichten, jeder Hinweis auf Sonnenunter- und Mondaufgang, ja selbst jede Geburts- und jede Todesanzeige.
Das gewichtige Wörtchen „Gott“ braucht man, um diese Erkenntnis festzuhalten, also nicht. Als Leerstelle für die Unverfügbarkeiten des Lebens verstanden, mag es allenfalls angehen; nur leider ist die Vokabel mit derart vielen Assoziationen belastet, dass sie meist ganz anders aufgefasst wird: im Sinne einer dem Menschen gegenüberstehenden, ihn ansprechenden und ihm etwas abfordernden persönlichen Größe, wie sie die Metaphorik und die Tradition der monotheistischen Religionen kennen. Auf einen solchen Theismus kann aber kein Materialist und kein Atheist, auch kein radikaler Mystiker und kein Pantheist verpflichtet werden. Im theistischen Verständnis hat der Gottesbezug in unserer Verfassung also nichts verloren. Auch für die Anbindung der Menschenwürde in Artikel I taugt der Gottesbegriff nicht; dieser fundamentale Verfassungsgrundsatz, den man in der Tat nicht relativieren sollte, lässt sich ohne Rekurs auf religiöse Überzeugungen plausibel naturrechtlich oder mit Albert Schweitzer vom Lebenswillen aller Kreatur her begründen.
Gott und die Freiheit? In der Theorie ist das richtig, in der Geschichte hat es nicht funktioniert, in der gegenwärtigen Praxis ist es in unserem Lande nicht realisiert. Frau Schavan sollte vielleicht ihren Vortrag demnächst noch einmal halten – vor weniger ausgesuchtem Publikum und so überarbeitet, dass die Konsequenzen für das politische System der Bundesrepublik deutlich werden. Das könnte sie Sympathien in ihrer Partei kosten. Der Wahrheit aber wäre gedient – und auch Honorarprofessoren der Theologie sollen der Wahrheit verpflichtet und dazu lernfähig sein.
Schlagwörter: Annette Schavan, Freiheit, Gott, Hermann-Peter Eberlein, Religion, Staat und Kirche