von Margit van Ham
„Dat du min Leevsten büst, dat du woll weeßt“, sang Martas klare Stimme. Sie hielt die Hand von Gerd, der etwas leise und unsicher einstimmte. Unverwandt sah er auf Marta mit seinen fast blinden Augen. „Kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht“, wurde Martas Stimme lauter und Gerd ließ sich locken. Sein Bariton war warm und wurde fester mit jeder neuen Liedzeile. Als sie „Kumm du um Middernacht, Kumm du Klock een, Vader slöpt, Moder slöpt, ick slap alleen“ sangen, lag in beiden Stimmen ein Lächeln.
Die Sonne schien in das kleine, praktisch eingerichtete Zimmer des Pflegeheims. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Schrank und das große Bett. Nur Fotos an den Wänden verrieten Persönliches. Gerd, fast 90 Jahre alt, ein großer Mann mit vollem weißen Haarschopf, hatte sie erläutert und die Verlegenheit und plötzliche Fremdheit überbrückt. Eine Landschaft aus dem Norden, das Zuhause, Fotos der Töchter am See, Gerd und Marta vor ihrem Haus. Gerds Verbindung zum Leben da draußen schien noch sehr eng zu sein. Ich entspannte mich: da war er doch noch, der kluge und gebildete Mann, den ich kannte. Nach einem Sturz von der Treppe war er in ein Krankenhaus gekommen, danach in das Pflegeheim. Marta war eine kleine hagere Person, 88 Jahre alt. Der Moment der Trennung lag ein halbes Jahr zurück und lag wie ein schweres Gewicht auf ihrem Gemüt. Sie hatte keine Alternative gefunden. Auf dem Weg ins Heim hatte Marta darüber gesprochen. Sich gleich wieder in die Pflicht genommen und Stärke gezeigt. „Es ist wie es ist“, hatte sie gesagt, die Tante, die immer stark war. Und dass es ein gutes Heim sei, meine unausgesprochene Frage beantwortend.
Sie schien Recht zu haben. Die Gänge, durch die wir gingen, waren in warmen Farben gehalten und ich nahm keinen der befürchteten Gerüche wahr. Meine Phantasie aber sah Marta an den einsamen Abenden durch das große Haus gehen, im Bett sich fragen, warum sie nicht beide einfach zusammen hätten einschlafen können. Während Marta durch das Zimmer ging und Gerds Wäsche und Medikamente prüfte, war Gerd wieder auf die Fotos zurückgekommen. Er erzählte die kleinen Geschichten zu den Fotos noch einmal mit den gleichen Worten. Und dann noch einmal und er freute sich daran. Gerd schien sich festzuhalten an diesen Fixpunkten seines Lebens, wie um sie nicht auch zu verlieren an das Vergessen.
Marta hatte den kurzen Rundgang durch das Zimmer beendet und sich zu Gerd gesetzt. Sie hatte sich an ihn gelehnt, war gelöst als Gerd mitsang und ihre Hand hielt. Sie war jetzt ganz Frau, seine Frau, nicht die Pflegende. Jetzt, in diesem Moment waren sie beieinander. Der Gedanke an Glück schoss durch meinen Kopf und traf mich völlig unvorbereitet. Ich hatte Schmerz erwartet, Verfall, aber nicht diesen Moment. Zeile um Zeile sangen sie weiter:
“Klopp an de Kammerdör,
fat an de Klink,
Vader meent, Moder meent,
dat deit de Wind.“
Marta fragte nach dem Tag, dem letzten Besuch einer Tochter. „Schön“, sagte Gerd und kam auf die Geschichte des Fotos mit der Tochter zurück. Martas Lächeln verschwand, aber nach kurzer Pause stimmte sie ein neues Lied an. Sie kämpfte um jede Erinnerung. Mit den langen Strophen der Lieder seiner Jugend hatte Gerd keine Probleme. Martas Gesicht strahlte, als sie immer weiter sangen. Die Lieder schienen eine Art Zuhause zu sein; ein Ort, wo sich ihre Gedanken und Erinnerungen noch trafen. Zum Abschied sangen sie noch einmal ihr Lieblingslied. „Dat du meen Leevsten büst“. Ihr ganz eigenes Ritual für Begrüßung und Abschied, dessen Innigkeit mich auf dem Heimweg begleitete. Ich höre die beiden noch immer:
„Kummt denn de Morgenstund,
kreit de ol Hahn,
Leevster min, Leevster min,
dann müsst du gahn.“
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