von Wilfried Schreiber
Unter dieser Fragestellung fand kürzlich bei der Rosa Luxemburg-Stiftung in Potsdam eine Podiumsdiskussion statt. Die Stiftung knüpfte mit dem Thema an einen Begriff an, der in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in der DDR recht populär war. Mit dem „Neuen Denken“ war damals eine politische Haltung gemeint, die das System der gegenseitigen Abschreckung in Frage stellte und auf gemeinsame Sicherheit setzte. Kooperation statt Konfrontation wollten damals verantwortungsvolle politische Kräfte beider Blöcke und befanden sich dabei in grundsätzlicher Übereinstimmung mit dem KSZE-Prozess. Sie folgten der Einsicht, dass die Gegner des Systemkonflikts nur noch gemeinsam überleben oder untergehen konnten – und sie vereinbarten eine drastische Reduzierung ihrer nuklearen und konventionellen Potentiale. Der Erfolg bestätigte die Protagonisten dieses Kurses: Das „Neue Denken“ hat wesentlich dazu beigetragen, die Länder und Völker aus dem Kalten Krieg herauszuführen – wenn auch die erhofften Friedensdividende nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht eingefahren wurde.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung wollte nun wissen, ob dieser Denkansatz auch noch heute aktuelle Relevanz besitzt und hatte zur Beantwortung der Frage zwei Experten eingeladen, die sich einst als Soldaten in den beiden deutschen Armeen gegenüberstanden: Wolfgang Scheler, seinerzeit Kapitän zur See und Professor an der Militärakademie der NVA in Dresden, und Roland Kaestner, inzwischen Oberst a.D. der Bundeswehr. Beide darf man durchaus als Repräsentanten des damaligen „Neuen Denkens“ bezeichnen. Scheler war einer der Wortführer der reformorientierten Offiziere an der Militärakademie in Dresden, Kästner war Ende der 80er Jahre als Major und „Fellow“ bei Egon Bahr am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg tätig.
In der politisch-philosophischen Debatte in Potsdam, bei der die Kategorien Krieg und Frieden im Mittelpunkt standen, unterschieden sich jedoch die beiden Diskutanten in ihren Ansätzen und Bewertungen.. Scheler zum Beispiel ging davon aus, dass zwar der Systemkonflikt beendet wurde, der nukleare Overkill aber nach wie vor bestehe. Faktisch sei die Welt in den letzten 20 Jahren in ein neues Nuklearzeitalter getreten, mit völlig neuen Labilitäten und Risiken. Er verwies in diesem Zusammenhang auf das Entstehen weiterer Kernwaffenmächte, die schrittweise Aushebelung des Kernwaffensperrvertrags, die Aufkündigung des ABM-Vertrags durch die USA, das Öffnen der Tür zur Weltraumrüstung sowie die Fortsetzung des Hochrüstungskurses. Er forderte einen neuen Aufstand des Gewissens zur Befreiung vom Abschreckungsdenken.
Kaestner dagegen hob die Gefahren hervor, die besonders durch das Auftreten neuer nichtstaatlicher Akteure entstanden sind, die den Krieg nicht mehr in erster Linie gegen traditionelle Armeen führen sonder gegen ganze Gesellschaften. Für diese Akteure sei der Krieg in Ermangelung anderer Einkommensmöglichkeiten eine Form des Lebensunterhalts. Hierzu gehöre auch die ökonomische Erpressung der reichen Industrieländer. Seine Schlussfolgerung bestand in der Notwendigkeit, gegen die neuen Gefahren eine neue Form der Abschreckung aufzubauen – ohne Kernwaffen. Es gäbe genug andere Mittel, um die staatlichen und nichtstaatlichen Akteure zurückzuweisen. Insofern sei eine Ächtung aller Massenvernichtungsmittel anzustreben. Scheler verlangte jedoch eine prinzipielle Abkehr vom System der militärischen Abschreckung und betonte „gemeinsame Sicherheit als das Gesetz des Nuklearzeitalters“. Für ihn waren die neuen – vorwiegend nichtstaatlichen Akteure – keineswegs die größte Gefahr für den Weltfrieden.
Weitgehend einig war man sich, dass auch nach dem Ende der Blockkonfrontation der Krieg als existenzielle Bedrohung der Menschheit nicht verschwunden ist. Begrenzte Kriege sind als Mittel der Politik sogar wieder legitimiert worden – und zwar keineswegs nur von und in Drittweltstaaten. Hinzu komme, wie Kaestner meinte, dass Kriege nunmehr in solchen Formen in Erscheinung treten, die früher nicht als Krieg bezeichnet wurden. Dabei vollziehe sich zugleich eine Entgrenzung des Krieges in neue Dimensionen und mit neuen Gefahren. Übereinstimmung bestand darin überein, dass der Frieden keineswegs sicherer geworden und der bestehende Weltfrieden lediglich im Sinne der Abwesenheit eines Weltkrieges zu verstehen ist, der durchaus Ähnlichkeit mit dem Frieden im Kalten Krieg hat – hochgradig bewaffnet und menschheitsgefährdend. Es ist immer noch ein „prekärer“ bzw. „negativer“ Frieden – mit all seinen Unwägbarkeiten.
Insofern lag auch die gemeinsame Schlussfolgerung nahe, dass die Dominanz des militärischen Denkens in der Politik überwunden werden muss und militärische Interventionen abzulehnen sind. Statt Interessenunterschiede mit militärischer Gewalt auszutragen, müssen gemeinsame Interessen in den Vordergrund gestellt und vor allem die sozioökonomischen Probleme in den Krisenstaaten gelöst werden. Auf jeden Fall sollten dabei bewährte Prinzipien und Methoden der Politik aus den Zeiten der Blockkonfrontation aufgegriffen werden – ob man das nun als „Neues Denken“ bezeichne oder nicht. In dieser Hinsicht waren sich Referenten wie Zuhörer einig – unabhängig davon, in welchem Gesellschaftssystem sie ihre Sozialisation erfahren haben. Mögen diese Erkenntnisse auch wie Binsenweisheiten erscheinen, die Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes bestimmen sie keineswegs.
In Erinnerung an diesen Abend bleiben auch Fragen, die nicht beantwortet wurden. Darunter solche, die gar nicht gestellt wurden, zu denen die Diskussion aber anregte:
– Wie begegnen wir am besten den neuen Herausforderungen für den Frieden – weltweit und regional? Wie ist mit gewaltbereiten Kräften umzugehen, staatlichen und nichtstaatlichen?
– Hat Friedenssicherung auch eine militärische Komponente? Wenn ja, wie viel Militär ist notwendig, unter welchen Bedingungen darf es eingesetzt werden – und mit welchem Auftrag?
– Wie sichern wir am nachhaltigsten den Frieden in Europa und in seinen Randregionen: mit einer Organisation wie der NATO oder einem kollektiven System, dass alle europäischen Staaten erfasst? Vielleicht auch mit einer Kombination beider Varianten?
– Welche konkreten Erfahrungen aus der Zeit des Kalten Krieges gibt es, die auch heute noch zur Friedenssicherung beitragen können? Ist es die Idee der Schaffung von Zonen des Verbots von Massenvernichtungswaffen, insbesondere von atomwaffenfreien Zonen? Ist es das Konzept der strukturellen Angriffsunfähigkeit?
– Welche Erfahrungen vermitteln uns der KSZE-Prozess und die Schlussakte von Helsinki mit ihrem Prinzipiendekalog? Wie können die damals ausgehandelten Regime der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung wiederbelebt werden? Gibt es neue Ansätze für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen?
– Welche Rolle spielen die Vereinten Nationen und das Völkerrecht, um Frieden zu bewahren? Wo liegen ihre Möglichkeiten und Grenzen? Wie sollten Völkerrecht und Vereinte Nationen gestärkt werden?
Man könnte die Liste der Fragen fortsetzen. Auf jeden Fall lohnt es, über Antworten nachzudenken. Auch die Linkspartei wird nicht umhinkommen, sich stärker mit diesen Fragen zu beschäftigen und ein konkretes Politikangebot machen müssen, wenn sie als Friedenspartei Erfolg haben will. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Potsdam wird in den nächsten Monaten die Debatte fortsetzen. Die Podiumsdiskussion zum „Neuen Denken“ war eine Auftaktveranstaltung, um auch die Öffentlichkeit in die Diskussion einzubeziehen.
Schlagwörter: Abrüstung, Abschreckung, KSZE, Neues Denken, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Rüstungsbegrenzung, Wilfried Schreiber