von Cem Sey
Das Bild eines leblosen Mannes hat die Menschen in der Türkei an einem kalten Januarnachmittag im Jahr 2007 an ihren Fernsehbildschirmen gefesselt. Der Mann lag auf einem Bürgersteig in Istanbul auf dem Bauch. Die gesamte Nation konnte seine stark abgetragene Schuhe sehen. Dieses Bild, das alle türkischen Fernsehsender innerhalb von Minuten übertrugen, und am nächsten Tag alle türkischen Zeitungen auf ihren Titelseiten abdruckten, hat das Land erschüttert. Denn der tote Mann hieß Hrant Dink und war einer der mutigsten Bürger in der modernen Türkei.
Als Nachfahre der Opfer des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts hatte sich der Armenier Hrant Dink schon in seinen jungen Jahren mit den Folgen dieser Katastrophe auseinandergesetzt und im 21. Jahrhundert das Thema mit einer einzigartigen Intelligenz und Beharrlichkeit in die Mitte der türkischen Gesellschaft getragen. Die von ihm gegründete armenisch-türkische Zeitung AGOS legte sich mit Nationalisten an. Dafür fand Hrant Dink die Linken und die Demokraten des Landes an seiner Seite. Seine Ermordung durch einen jungen Faschisten leitete einen Wendepunkt im Demokratisierungsprozess in der Türkei ein, der 1999 begonnen hatte. Seither scheint die moderat-islamistische Regierung des Premierministers Recep Tayyip Erdogan den Rückwärtsgang eingelegt zu haben. Die durch den EU-Prozess eingeleiteten Reformen werden kaum noch fortgeführt. Vor allem der Druck auf die Intellektuellen und Journalisten nimmt dagegen ununterbrochen zu.
Doch Dinks Tod hat auch eben jene Linke und Demokraten aufgerüttelt, die ihm nahestanden. Betrachteten sie bis dahin das Bemühen Hrant Dinks, den Völkermord aufzuarbeiten, als eine notwendige, aber einfache Aufgabe, verstanden sie nun, dass sie weder einfach noch selbstverständlich ist.
Der Völkermord an den Armenier von 1915 und der immer wieder aufkeimende Hass auf diese kleine christliche Minderheit in der Türkei waren schon immer ein Hauptpfeiler des türkischen Nationalismus. Als in den 1940er Jahren Ankara sich politisch Hitler näherte, als 1955 in Istanbul die Häuser der Angehörigen der Minderheiten brannten und auch nach dem letzten Militärputsch 1980 – stets waren die Armenier unter den Leidtragenden. Jedes mal, wenn sich die Herrschenden in Anatolien unter Druck gesetzt fühlten, versuchten sie, die Bevölkerung mit nationalistischer Hetze gegen die Minderheiten und vor allem gegen die Armenier auf ihre Seite zu ziehen.
Die Ermordung Hrant Dinks war der erschütternde Beweis dafür, dass diese Zeiten keineswegs vorüber sind. Deshalb löste Dinks Tod Entrüstung aus. Er stärkte aber auch den Kampfeswillen eben der demokratisch gesinnten Menschen, die gleich nach seiner Ermordung in einer spontanen Demonstration der Trauer zu Zehntausenden und während seiner Beisetzung zu Hunderttausenden auf die Straße gingen. Es folgte ein Offener Brief an die Armenier, in dem mehrere Zehntausend Türken sich für den Völkermord und den Umgang damit in der modernen Türkei entschuldigten. Seitdem hat die Aufarbeitung der türkischen Geschichte an Fahrt gewonnen. So auch die Auseinandersetzung mit den Nationalisten. Wenn auch diejenige, die für eine ehrliche Aufarbeitung eintreten, immer noch eine Minderheit sind, ist doch klar, dass dieser Prozess fortschreiten wird.
Nun erreichen die Wellen der Aufarbeitung und Verständigung auch Deutschland. Hier sind die Türken, die sich für die Aufarbeitung der eigenen Geschichte, für ein Dialog mit Armeniern und für Verständigung einsetzen, ebenfalls noch eine kleine Minderheit. Doch sie werden aktiv. Im Januar 2011, am vierten Jahrestag der Ermordung Dinks, fand in Berlin eine Hrant-Dink-Woche statt, die sich die Gründung eines Hrant-Dink-Forums in der deutschen Hauptstadt zum Ziel gesetzt hatte und auf unerwartet großem Interesse stieß. Die unterschiedlichsten Veranstaltungen waren sehr gut besucht. Die Diskussionen waren anregend und bewiesen, dass es auch unter den türkischen Migranten in Deutschland durchaus die Tendenz gibt, den Völkermord an den Armeniern nicht als politische Munition zu sehen, sondern sich mit Vernunft und menschlichen Gefühlen damit auseinanderzusetzen. Die Organisatoren der Gedenkwoche – vier in Berlin lebende und zum Teil eingebürgerte Türkinnen und Türken – gehen davon aus, dass auch hier ein Dialog stattfinden muss. Dabei haben sie vor allem die große Anzahl der in der Stadt lebenden türkischen Migranten im Auge. Denn „wenn die türkischen Migranten sich mit dem Völkermord an den Armeniern auseinandersetzen, wird es der türkische Nationalismus immer schwerer haben, diese Menschen zu erreichen“, glauben sie. Das Thema sei auch für die „deutschen Nachbarn“ wichtig, denn es sei eher der türkische Nationalismus, der den türkischen Migranten in Deutschland die Integration in die Gesellschaft erschwere, als der Islam, der zwar einen Teilaspekt dieses Nationalismus sei, aber nicht den wichtigsten Aspekt darstelle.
Das Aufarbeiten einer bisher als Tabu behandelten Geschichte fällt immer noch schwer. Doch die Rahmenbedingungen werden womöglich nie besser sein, als heute in Deutschland. Denn hier dürften die Repressionen des türkischen Staatsapparats kaum Wirkung haben. „Es braucht nur ein bisschen Mut und Offenheit“, sagen die Initiatoren des Berliner-Hrant-Dink-Forums.
Ihnen schwebt ein Forum, bei dem Menschen zusammenarbeiten, die bereit sind, über die Geschichte, aber vor allem über die Zukunft dieser beiden Bevölkerungsgruppen zu sprechen. Um der jungen Generation ein anderes Weltbild zu vermitteln, sind viele kleine Projekte notwendig, an denen Türken, Armenier, Kurden, Griechen und Angehörige aller anderen ethnischen Gruppen gemeinsam arbeiten, die in der Türkei miteinander leben – wenn auch der Volkernord an Armeniern, ethnische Sauberungen und bis heute andauernde Vertreibungen und Massaker sie zunächst einmal in ihren gegenseitigen Vorurteilen bestärken.
Diese Vorurteile machen die Aufarbeitund der gemeinsamen Geschichte auch in Deutschland nicht einfach. Nicht nur auf der türkischen Seite, auch unter den Armeniern sind die Berührungsängste groß. Die schiere Überzahl der Türkinnen und Türken in Berlin verkompliziert die Sache zusätzlich. Die Sorge vor Bevormundung und Vereinnahmung durch die Türken geht in der relativ kleine armenische Gemeinde um. Dennoch scheint der Weg, den Hrant Dink beschrieben hat, immer noch der einzige Ausweg für beide Gruppen. „Wir haben das Glück, mit den Türken zu leben“, sagte 2005 Hrant Dink in einem Interview mit der Berliner taz über die Armenier in der Türkei, „das ist der Grund dafür, dass wir uns von dem Trauma der Armenier überall sonst auf der Welt befreien konnten; sie können mit Türken nicht einmal reden. Türken und Armenier sind psychisch krank. Und es gibt nur eine einzige Therapie dafür: einen Dialog.“
Schlagwörter: Armenier, Cem Sey, Hrant Dink, Türkei, Völkermord