14. Jahrgang | Nummer 6 | 21. März 2011

Auf der Titanic, an der Bar

von Helfried Koppel

In Anbetracht der Katastrophe in Japan und der noch immer unabsehbaren Folgen sei es nicht die Zeit, über die deutsche Atompolitik zu sinnieren, haben unsere Politvorderen ebenso pietätvoll wie flugs verlauten lassen, als das Verhängnis bekannt wurde. Sollte damit das mediale Binnengezänk der „üblichen Verdächtigen“ unserer geliebten Parteienlandschaft gemeint gewesen sein, mochte dieser Vorsatz gelten. Geht es aber um die Konsequenzen aus den Ereignissen in Japan auch für Europa, auch für Deutschland, dann ist es alles andere als müßig, zu reden. Und vor allem: endlich zu handeln.
Aber was war und ist bislang vorrangig zu hören: In Deutschland herrscht das höchste Sicherheitsniveau der Welt! So Angela Merkel selbst noch nach der von ihr veranlassten Verfügung von sieben alten AKW´s in einen zeitweiligen Ruhestand. Über alles nochmal reden? Gewiss. Die Sicherheitsstandards noch mal prüfen? Na freilich. Spätestens dann werden wir aber wieder wissen, was wir schon immer wissen sollen: deutsche Atomkraftwerke sind nur in einer Hinsicht furchtbar, furchtbar sicher nämlich, möglicherweise sogar noch sicherer als deutsche Renten.
Aber machen wir uns nicht nur über das letztlich doch schon wieder Wahlkampfattitüden folgende Geschwätz der Politik oder die Demagogie der Atomlobby lustig – das wäre in der Tat pietätlos. Denn die auf deren Betreiben und/oder Beförderung erfolgte Hinwendung zur Kernenergie trotz all der damit verbundenen Risiken sollte und muss uns endlich auf den Balken im eigenen Auge hinweisen, statt ausschließlich über den der Splitter in den Augen von Lobbyisten zu sprechen. Jeder, der sich auch nur am Rande mit diesem Thema befasst hat – selbst Boulevardpresse-Konsumenten also – wissen um die Gefahren der Kernenergie und vor allem der unfassbaren Langzeitwirkungen von unkontrollierten Reaktionen in laufenden Anlagen und/ oder unserer jahrtausendelangen Gefährdung durch lagernden Atommüll.
Gewiss hat es immer Aktivisten gegeben, die nicht nur davor gewarnt sondern auch dagegen gekämpft haben, wie wohl sie sich oft als Spinner, Panikmacher und grüne Dogmatiker haben beschimpfen lassen müssen. Und einige mehr noch runzeln gewiss schon lange besorgt die Stirn, wenn es um dieses Thema geht, innerlich sind sie eigentlich dagegen, und wenn dazu mal wieder Leserbriefe zu schreiben Anlass ist, tun sie´s auch. Aber dann?
Haben wir es mehrheitlich nicht mehr oder weniger alle bei Unmut über steigende Energiepreise belassen, weil uns die Konzerne abzocken, statt denen zu allererst das Handwerk zu legen, uns den Gefahren der Kernspaltung so auszusetzen, dass diese wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt?
Haben wir uns nach Tschernobyl nicht mehr oder weniger mit der Herablassung zufrieden gegeben, dass so etwas doch nur dank des niedrigeren Sicherheitsstandards Russlands und zumal bei dessen veralteten Reaktoren möglich gewesen ist? Sowas bei uns? Aber doch niemals nicht! Schließlich obwaltet von Brunsbüttel und Greifswald bis Gundremmingen A, B und C „deutscher Standard“. Da gibt’s höchstens mal ein kleines Leck, ach was, ein Leckchen, was fast schon so klingt wie ein Leckerli.
Das alles war und ist gar so „sicher“, dass Schwarz/Gelb grade erst vor kurzem einen der finstersten Politikschritte einer deutschen Regierung rückgängig gemacht hat – den von Rot/Grün seinerzeit beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie. Eine Rolle rückwärts, die die Physikerin (sic!)Angela Merkel mit einer Huldigungsreise quer durch deutsche AKW-Lande gekrönt hat – glücklich lächelnde Konzernchefs allüberall. Es ist also dabei geblieben: Rauf auf die Titanic und am besten an die Bar!
Gäbe es dieses betonköpfige Beharrungsvermögen dann, wenn sich keine Alternativen böten, hätten wir bei der Kritik an solcher Politik ein Problem. Denn auf die Mehrheitsfähigkeit einer AKW-Abschaltung könnte man hier (und anderswo wohl auch) wohl nicht bauen – zu sehr partizipieren wir alle doch an der Verfügbarkeit von alles in allem noch immer preiswerter Energie; Verschwendung ist im Privaten ebenso augenscheinlich wie im Öffentlichen. Und Hand aufs Herz – wie viele (wenige) können von sich behaupten, freiwillig den teureren Öko-Strom zu ordern, der auf Anteile von Kernenergie verzichtet? Verantwortung, das wird in Zeiten großer Erregtheiten noch lieber vergessen als sonst schon, beginnt doch nicht bei „den Verantwortlichen“, und schon gar nicht reduziert sie sich auf diese. Bei allem berechtigten Zorn auf die ökonomische wie politische Atomlobby – jedes Bemühen, aus dem jetzigen Deaster zu lernen schlüge fehl, wenn man lediglich Politiker abstrafen wollte – Einkehr ist angesagt, und zwar in jedem Haushalt.
Aber zurück zu den Alternativen: Es gibt sie ja und zwar schon lange. Und so unzutreffend der Vorwurf wäre, dass diese nicht auch gefördert werden, so bleibt doch, dass nicht einmal die mögliche, weil für die Energiesicherheit Deutschlands gefahrlose und finale Abschaltung zumindest der alten Reaktoren erfolgt ist. Denn auch aus denen ist noch Profit zu holen, sogar dann, wenn dieser mit der Brennelementesteuer nun ein wenig abgeschöpft wird, lohnt es sich offenbar, weiterzumachen.
Mit Einsichten in der Energiewirtschaft, auf die die Kanzlerin bei ihrer ebenso bevorzugten wie lachhaften Strategie der „Selbstverpflichtung“ setzt, ist nicht zu rechnen. Keineswegs, weil die Leute dort zu blöd sind – Verzicht auf Profit ist im Kapitalismus nicht nur ein ideologisches Sakrileg – es kann (was  in der Tat in sich logisch ist!) nicht erwartet werden in einer Konkurrenzsituation, bei der es wie im Mikado ist: Wo dort der erste, der wackelt, „raus“ ist aus dem Spiel, ist ein auf Profit Verzichtender raus aus dem Geschäft.
Wie in so vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auch zeigt sich immer wieder und immer mehr: Hier sind ganz andere gesellschaftliche Regularien auf der Tagesordnung. Das müssen nun noch nicht die originär sozialistischen sein, die jetzigen aber schon gar nicht. Das Bank- und Finanzwesen, das Gesundheitswesen, die Bildung, die Kultur, der öffentliche Beschäftigungssektor dokumentieren überdeutlich das Versagen der Privatwirtschaft gegenüber der Gesellschaft. Und was die Industrie betrifft, so kann nur Apodiktik obwalten, die da sagt: Zumindest die Bereiche, die zur Daseinsvorsorge zählen, gehören nicht in Privathand! Die Energieversorgung steht bei alledem ganz oben.