14. Jahrgang | Sonderausgabe | 17. März 2011

Akademische Kampfhähne

von Frank Ufen

Im April 1906 stellte er gemeinsam mit seinem älteren Bruder mit 52,5 Stunden einen neuen Rekord im Ballon-Dauerfahren auf. Er gelangte als einer der ersten zu der Erkenntnis, dass es sich bei den Kratern auf der Mondoberfläche um die Einschlagstellen von Meteoriten handelt. Er erkannte als erster, wie das Phänomen der Fata Morgana physikalisch zu erklären ist. Und er unternahm drei äußerst riskante Grönland-Expeditionen. Bei der dritten Expedition kam er 1930 unter ungeklärten Umständen ums Leben. Doch in die Geschichte eingegangen ist er als der Begründer einer Theorie, die heute fast jedes Kind kennt: die Theorie der Kontinentalverschiebung. Der Mann, von dem hier die Rede ist, ist der deutsche Physiker, Astronom, Meteorologe, Geologe und Polarforscher Alfred Wegener.
Schon Jahrhunderte vor Wegener hatte man bemerkt, dass die Konturen der afrikanischen West- und der südamerikanischen Ostküste zusammenpassen wie die Teile eines Puzzles. Allerdings war man nach wie vor der Vorstellung verhaftet, dass die Kontinente sich nicht von der Stelle bewegen könnten, und deswegen wurde vermutet, dass Südamerika und Afrika ursprünglich durch einen weiteren Kontinent, der später versinken sollte, miteinander verbunden gewesen wären.
Gestützt auf Erkenntnisse aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen, nahm Wegener diese Hypothese völlig auseinander. Kontinente, erklärte er, könnten gar nicht versinken, da sie spezifisch leichter seien als das, worauf sie schwimmen würden. Wegeners eigene Theorie postulierte, dass es einen Urkontinent gegeben habe, der irgendwann in zwei Stücke zerbrochen sei, die danach immer weiter auseinandergedriftet seien.
Als Wegener jedoch seine bahnbrechende Theorie der Fachwelt präsentierte, stieß er fast überall auf vehemente Ablehnung und helle Empörung, man tat seine Thesen als „Gedankenspielerei“, „Fantasiegebilde“ oder „völligen Blödsinn“ ab und verhöhnte sie sogar als die „Fieberfantasien eines von Krustendrehkrankheit und Polarschubseuche schwer Befallenen“. Dass alles, was Wegener sagte und schrieb, Hand und Fuß hatte, nützte ihm wenig. Man drehte ihm einen Strick daraus, dass er lange die Kräfte nicht ausfindig machen konnte, die mächtig genug sind, um Erdplatten in Bewegung zu setzen.
Der große Biologe Ernst Haeckel war im Deutschland des 19. Jahrhunderts zweifellos der konsequenteste und militanteste Verfechter der Darwinschen Evolutionstheorie. Wenn es darum ging, seine oft waghalsigen Ideen durchzusetzen, scheute er selbst vor fragwürdigen Methoden nicht zurück.
Haeckels Name ist bis heute mit dem „Biogenetischen Grundgesetzt“ verkoppelt.  Es besagt, dass jedes Lebewesen während seiner Embryonalentwicklung sämtliche Stadien seiner Evolutionsgeschichte durchläuft. Dass Reptilien und Fische zu den Vorfahren der Menschengattung gehören, kommt laut Haeckel beim menschlichen Embryo in dem vorübergehenden Auftreten von Kiemenspalten und einer Schwanzanlage zum Ausdruck. Doch die berühmten Zeichnungen, in denen er die Embryonen einer ganzen Reihe von Wirbeltierarten einander gegenüberstellte, übertrieben maßlos die Ähnlichkeiten und ließen fast alle Unterschiede verschwinden. Um zu demonstrieren, dass der menschliche Embryo in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung die evolutionsgeschichtliche Stufe der Fische rekapitulieren würde, gab Haeckel ihm kurzerhand das Aussehen einer Kaulquappe. Und schließlich ging er sogar so weit, ein und dieselbe Abbildung mehrfach zu kopieren  und diese Illustrationen dann als Darstellungen von Embryonen verschiedener Lebewesen auszugeben.
Haeckels Kollegen ließen sich von diesen Manipulationen und Fälschungen nicht täuschen. Das konnte allerdings nicht verhindern, dass sein übervereinfachtes „Biogenetisches Grundgesetz“ rasch populär und für üble politische Zwecke eingespannt wurde. So diente es dazu, der Lehre vom „geborenen Verbrecher“ ein pseudowissenschaftliches Fundament zu verpassen und den Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus ideologisch zu legitimieren – man behauptete schlichtweg, dass die exotischen Völker auf älteren Stufen der Phylogenese steckengeblieben wären. Aber auch Freud griff Haeckels Ideen begierig auf. Er glaubte, in den Neurosen etliche Züge des „Seelenlebens der Primitiven“ wiederzuerkennen und führte die orale und anale Phase mit ihrer Dominanz des Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinns auf die Vierbeiner-Vergangenheit des Menschen zurück.
Im gesellschaftlichen Feld der Wissenschaften finden unaufhörlich Konkurrenzkämpfe statt, in denen es sowohl um Reputation, Autorität und Reputation als auch um Posten und Forschungsmittel geht. Diese Kämpfe schlagen nicht selten in blindwütige Auseinandersetzungen zwischen unmittelbaren Gegenspielern um, denen am Ende fast jedes Mittel recht ist: Verleumdungen, Beleidigungen und Intrigen, oder auch das Fälschen von Befunden. Wie menschlich-allzumenschlich oder bizarr es bei solchen Auseinandersetzungen hergeht, schildert der Mediziner und Wissenschaftshistoriker Heinrich Zankl anhand von 32 Fallbeispielen aus den letzten vier Jahrhunderten der Wissenschaftsgeschichte – von Hobbes und Voltaire bis hin zu Robert Charles Gallo und Luc Montagnier. Eine hochinformative, den Horizont erheblich erweiternde Lektüre.

Heinrich Zankl: Kampfhähne der Wissenschaft. Kontroversen und Feindschaften. Wiley-VCH, Weinheim 2010, 290 S., Euro 24,90