von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Sind die USA ein Land, das sich im Wesentlichen rechts von der Mitte befindet? Vordergründig gesehen scheinen die Kongresswahlen vom November 2010 eine Bejahung dieser Frage nahezulegen. Die unter Obamas Flagge segelnden Demokraten erlitten auf Regional-, Staats- und Bundesebene eine empfindliche Niederlage. Im Repräsentantenhaus verloren sie ihre seit 2006 überlegene Mehrheit an die Republikaner und auch im Senat ist ihre Mehrheit nun reduziert.
Nicht wenige Beobachter leiteten daraus ab, dass die amerikanische Gesellschaft grundsätzlich rechtskonservativ ausgerichtet ist und Obamas reformistischer Agenda eine fundamentale Absage erteilt hat. Anscheinend will die Bevölkerungsmehrheit keine sozialstaatlichen Korrekturen des Kapitalismus und schon gar keine universelle Krankenversicherung. Die oft beschworenen Selbstheilungskräfte des Marktes, verbunden mit dem legendären amerikanischen Optimismus und der Eigeninitiative des Einzelnen werden es schon richten – zumindest in der Imagination der meisten Wähler.
So plausibel diese Interpretation der November-Wahlen auch klingen mag – sie ist ein Fehlschluss. Obama und die Demokraten haben die Wahl nicht verloren, weil sie zu sehr nach „links“ schwenkten, sondern weil sie bei Weitem nicht links genug waren. Obama und sein Team lieβen den Abstand zwischen sozialstaatlicher Rhetorik und ihrer eigentlichen Regierungspraxis zu groβ werden. Die schamlose Umverteilung von Unten nach Oben, die zunehmende Verelendung der Armen und die Verarmung der Mittelklasse auf der einen Seite sowie der obszön ins Riesige wachsende Reichtum auf der anderen Seite – all das hat sich unter Obama nicht geändert . Inzwischen leben 15,7 Prozent der amerikanischen Bevölkerung unterhalb der schon sehr bescheiden bemessenen Armutsgrenze. Im reichsten Land der Erde fehlt es also 47,8 Millionen Menschen am Nötigsten. Besonders die Kinder- und Altersarmut ist im Vergleich zu 2009 wieder deutlich angestiegen.
Obama verwässerte seine schon zu Beginn recht zaghaften Reformvorschläge immer mehr zugunsten der wirtschaftlichen und politischen Machteliten. So blieben am Wahltag nicht wenige Stammwähler und viele von Obamas Hoffnungsrhetorik vor ein paar Jahren mobilisierte Neuwähler resigniert zu Hause.
Tariq Ali hat sich in seinem gerade erschienen Buch „The Obama Syndrome: Surrender at Home, War Abroad“ dem bedauerlichen, aber auch vorhersagbaren Sachverhalt angenommen, dass Obama in seinem Präsidentschaftswahlkampf zwar linksliberal aufgetreten war, aber nun in vielerlei Hinsicht von Bush kaum noch zu unterscheiden ist. Trotz aller gegenteiligen Versprechungen ist weder in Irak noch in Afghanistan ein Ende der Besetzung abzusehen. Obama hat den amerikanischen Militäreinsatz in Afghanistan gar noch ausgeweitet, einschlieβlich der kriegsverbrecherischen Drohnenangriffe, durch die Zivilisten routinemäβig getötet werden. Auβerdem hat sich Obama mit Wallstreet-Managern und marktradikalen Ideologen wie Tim Geithner und Lawrence Summers umgeben, während man fortschrittlichere Fachleute vom Schlage eines Joseph Stiglitz oder auch eines Paul Krugman vergebens unter Obamas Beratern sucht. Elena Kagan, von Obama in den Obersten Gerichtshof der USA befördert, hat sich für eine Legalisierung von Folter für Terrorverdächtige ausgesprochen und ist damit in die Nähe von Bushs Pro-Folterjuristen wie John Yoo gerückt. Stichwort Folter: Trotz gegenteiliger Wahlkampfversprechen wurden weder Guantanamo noch Bagram oder auch andere Folterhöllen von Obama geschlossen. Und Obamas Justizminister Eric Holder versucht, Aufklärungsversuche mit Hinweis auf angebliche Staatsgeheimnisse abzuwürgen – auch in dieser Hinsicht zeigt sich eine fatale Kontinuität zu Bush und dessen Riege. Obamas Krankenversicherungsreform wurde, wie Ali und andere bedauernd zu Kenntnis nehmen, von Lobbisten der Versicherungsindustrie konzipiert und reflektiert natürlich deren Interessen. Mit einer solchen Bilanz war es schwer für Obama, die eigenen Reihen zum Wahlkampf zu aktivieren.
Das offen und aggressiv rechtskonservative Lager hingegen witterte Morgenluft. Amerikas Finanz- und Wirtschaftselite überhäufte die Republikaner mit Geld und Know How. Rechte Frontgruppierungen wie die faschistoide Tea Party, bestens finanziert von der Öl- und Rüstungsindustrie, versuchen, mit populistischen Slogans den berechtigten Zorn der ausgebeuteten arbeitenden Bevölkerung auf die herrschenden Schichten umzuleiten in fanatischen Nationalismus, Ausländer- und Fremdenhass. Obama, in der politischen Wirklichkeit gewiss kein linker oder auch nur linksliberaler Mann, wird von den Tea Party-Demagogen als Kommunist beschimpft und sein Bild mit einem Hitler-Schnauzbart verunstaltet. Auf diese Weise werden – primitiv, aber durchaus wirkungsvoll, – die einige Millionen zählenden politischen Wirrköpfen von rechts und rechtsauβen permanent berieselt. Damit versuchen die Handlanger der aggressivsten Kreise des Groβkapitals zugleich jegliche Versuche abzuwürgen, den amerikanischen Raubtier-Kapitalismus einigermaβen zu zivilisieren.
Täglich, stündlich, ja minutlich wird die amerikanischen Bevölkerung bombardiert mit der Propaganda des Groβkapitals, das augenscheinlich jeden Maβstab für Vernunft verloren hat und nur noch auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist. Durch die von eben diesem Groβkapital kontrollierte Medien wie Fernsehen, Talk-Radio sowie Internet-Foren, aber auch durch die auflagenstärksten Zeitungen ist die amerikanische Bevölkerung einer beispielslosen und perfiden Manipulation ausgesetzt. Und dennoch weigert sich die Mehrheit, darauf hereinzufallen. So zeigte eine kürzliche Umfrage beispielsweise, dass zwar 70 Prozent der Amerikaner mit Obamas Krankenversicherungs-Reform unzufrieden sind. Aber nur 17 Prozent sprechen sich für die Vorschläge der Republikaner aus. Im Klartext heiβt dies, dass die groβe Mehrheit eine Krankenversicherungsreform möchte, die deutlich links von Obamas gegenwärtigen Vorstellungen liegt.
Wie kann man nun den in vielen Punkten links von Obama positionierten Wählerwillen in die politische Wirklichkeit umsetzen? Obama und seine Mannschaft, erwähnt sei hier nur der Haudegen Rahm Emanuel, betonen ja immer wieder, dass Linke und Linksliberale zu den Demokraten grundsätzlich keine Alternative hätten, denn unter den rechtskonservativen Republikanern würde alles nur noch schlimmer. Die Demokraten seien daher die einzigste realistische Option, sozusagen das kleinere Übel.
Linke und linksliberale Aktivisten müssen gerade in unserer heutigen, an kultureller und historischer Amnesie leidenden Zeit unvoreingenommen die Geschichte von sozialstaatlichen, gewerkschaftlichen und bürgerrechtlichen Bewegungen in den USA kennen und analysieren. Dabei stöβt man beispielsweise auf zwei progressive Zeitabschnitte: die dreiβiger Jahre (New Deal) und die sechziger Jahre (Civil Rights Movement) des 20 Jahrhunderts. Damals gelangen wirkliche Reformen, die die Lebensbedingungen der Mittelklasse, der unteren Einkommensschichten und der schwarzen Bevölkerung verbesserten. Kam es dabei zu diesen wirklichen Fortschritten etwa allein durch die Gutmütigkeit der herrschenden Klasse, die langfristig gesehen eben doch rational und damit auf sozialen Ausgleich orientiert denkt? Keineswegs! Am Ende war es der Mobilisierung einer breiten Protestbewegung zu verdanken, die auf die intelligenteren Vertreter der amerikanischen Führungsschicht genug Druck ausübte, um diese zu weitreichenden Zugeständnissen zu bewegen.
Obamas Wahl zum ersten afro-amerikanischen Präsidenten der USA wurde zum gröβten Teil möglich, weil eine starke Protestbewegung hinter ihm stand. Viele Aktivisten lieβen sich jedoch in den Apparat der Demokratischen Partei einbinden oder aber dachten, dass sich mit Obamas Wahl eine progressive Neuorientierung der amerikanischen Gesellschaft faktisch im Selbstlauf vollziehen würde. Die Realität allerdings zeigt deutlich, dass wirkliche politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen eben nur durch Druck von Unten möglich sind. Um eine solche und notwendigerweise über Tagesereignisse hinaus strategisch denkende und parteiunabhängige Protestbewegung aufzubauen, wird aber mehr benötigt als Schönwetteraktivisten mit einem historischen Kurzzeitgedächtnis. Vielleicht sollte man in dieser Hinsicht die Erfahrungen und Traditionen früherer kommunistischer und linkssozialistischer Parteien und Bewegungen konstruktiv-kritisch beleuchten.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, New Deal, Obama, Tea Party, USA