Ein Plädoyer für den Verzicht
von Niko Paech
Würden wir eine Welt vermissen, in der man sich zwischen drei Dutzend Fernsehprogrammen, Internet, DVD, Kino und anderen Zerstreuungen glaubt entscheiden zu müssen und in der Spaß zum Freizeitstress wird?
Wäre es nicht schöner, wieder mehr selbst zu gestalten? Mehr Zeit für die Kinder zu haben. Endlich mal wieder selbst Musik zu machen oder zu kochen, dem Nachbarn zu helfen oder sich ehrenamtlich zu engagieren.
Aber wie soll das gehen bei 40 Stunden Arbeit pro Woche, manchmal auch mehr? Wer so viel arbeitet, möchte sich auch mal etwas gönnen: ein neues Auto, ein iPad, einen neuen Flachbildfernseher – die Playstation für die Kinder nicht zu vergessen. Und schon steckt man fest im Teufelskreis aus Konsumbedürfnissen und Zeitmangel.
Tagtäglich muss sich der zeitgenössische Konsument seinen Weg durch ein dichtes Gestrüpp käuflicher Selbstverwirklichungsangebote bahnen. Auf dem Rummelplatz der glitzernden Verführungen den Überblick zu behalten, kostet vor allem eines: Zeit. Alles will zur Kenntnis genommen, betrachtet, geprüft, abgewogen, verglichen, zum Gegenstand einer Kaufentscheidung und eines Kaufakts werden und schließlich auch noch genutzt werden. Dabei wird auch die Zeit immer knapper, die den vielen Konsumobjekten gewidmet werden muss, damit sie überhaupt Genuss stiften können. Dies liegt sowohl an der Reizüberflutung, die unsere Aufmerksamkeit und Zeit stiehlt, als auch daran, dass wir uns immer mehr Dinge leisten können, auf die wir unsere Zeit verteilen müssen.
Inzwischen braucht man schon einen gewissen Selbstschutz, um in diesem Hamsterrad nicht die Orientierung zu verlieren. Ein möglicher Ausweg bestünde in einem entschleunigten Lebensstil, angefangen mit einer Entrümpelung: Von welchen Energiesklaven, Konsumkrücken und Komfort verheißenden Infrastrukturen könnte sich die Gesellschaft und jeder Einzelne freimachen? Der Abwurf von Wohlstandsballast wirkt befreiend. Es gilt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, statt sich in einer frustrierenden Vielfalt von Glücksversprechen zu verlieren.
Prinzipiell wäre es ganz einfach, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Zumindest für die Besserverdienenden in den Industrieländern: Wer nur 20 Stunden pro Woche dem Gelderwerb nachgeht, kann die verbleibende Zeit dem selbst bestimmten Leben widmen. Diese Menschen könnten zu einer vorteilhaften Balance aus Selbst- und Fremdversorgung finden, zu einer neuen „urbanen Subsistenz“. Sie bedeutet weniger materiellen Konsum und mehr Souveränität über die eigene Zeit, weniger Abhängigkeit von globaler Fremdversorgung.
Doch zurück zur Wirklichkeit, die geprägt ist von einer märchenhaften Expansion der Dinge, die man zu brauchen glaubt, um frei und glücklich zu sein, und in der nichts geht ohne den Glauben an das unbegrenzte Wachstum. Von ihm hängt angeblich nicht nur der Wohlstand ab, sondern auch Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, die nur garantiert werden können, wenn alles immer mehr wird.
Diese Vision hat lange funktioniert. Mit der Verzahnung von wirtschaftlichem Wachstum und technischem Fortschritt schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis alle Engpässe und Hindernisse beseitigt wären, die der gebotenen Selbstverwirklichung noch im Wege stehen. Dabei galt es nicht nur, die Instrumente der individuellen Glückssuche fortwährend zu verbessern, sondern diese über quantitatives Wachstum einer immer größeren Anzahl von Erdbewohnern zugänglich zu machen – um so dem historischen Großvorhaben einer befriedeten Menschheit näher zu kommen. Dabei wissen wir schon lange, dass unbegrenztes Wachstum ein Mythos ist. Anfang der 1970er Jahre störte ein Zwischenruf die allgemeine Wachstumsparty. Der Club of Rome veröffentlichte 1972 seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, der einen Wendepunkt markierte: Danach ließ sich gesellschaftlicher Fortschritt nicht mehr umstandslos in einen bedingungslosen Wachstumsimperativ übersetzen. Mit den „Grenzen des Wachstums“ trat ein Phänomen zutage, welches fortan ökologische Lebensgrundlagen genannt wurde. Es war der Anstoß zu kritischen Reflexionen, die den modernen Industrie- und Konsumkomplex zwar als Verursacher neuer Knappheiten entlarven konnten, den Glauben an die Allmacht von Technik, Wissenschaft und Wachstum aber nicht wirklich erschüttert haben.
Damals wurde das unhaltbare Modell des unbegrenzten materiellen Wachstums durch eine vermeintlich geläuterte Fortschrittszuversicht verdrängt, die eng mit den Vorstellungen von einer nachhaltigen Entwicklung verwoben ist. Doch was hier als ökologische Aufklärung daherkam, verleitete im Grunde nur zu einer weiteren Verschärfung des ökonomischen und technischen Machbarkeitswahns. Denn fortan begnügten sich die Fortschrittsideologen nicht mehr damit, die materialisierten Symbole für Freiheit und Wohlergehen immer weiter zu mehren, sondern behaupteten allen Ernstes, dies obendrein auf ökologisch unschädliche Weise vollbringen zu können. Damit begann der große Selbstbetrug des „nachhaltigen“, des „grünen“ Wirtschaftens, das als „qualitatives“ und „kohlenstofffreies“ Wachstum schöngeredet wird.
Der Traum vom dematerialisierten Wachstum ist aber nicht mehr als eine Travestie der Irrlehre vom unbegrenzten Wachstum. Frei nach dem Motto: Der in Geld transferierte Output einer weltweit arbeitsteiligen Industrie kann weiterhin unbegrenzt wachsen, während gleichzeitig die geschundene Biosphäre entlastet wird. Um die Vision vom nachhaltigen Wirtschaften glaubwürdig erscheinen zu lassen, wird jedoch der Zielkonflikt zwischen ökonomischen Wachstum und ökologischer Nachhaltigkeit verleugnet beziehungsweise durch eine Scheinargumentation vermeintlich entkräftet.
Ausgangspunkt für das Greenwashing des „nachhaltigen“ Wachstums ist die Unterscheidung zwischen qualitativem und quantitativem Wachstum. Dies suggeriert, dass sich industrielle Wertschöpfung in zwei Dimensionen aufspalten lässt: Man unterscheidet kurzerhand zwischen den rein qualitativen Werten – das sind die nutzbringenden Funktionen, um derentwillen die Güter überhaupt produziert werden – und einer materiellen Dimension des Outputs, die allein als ökologisch problematisch erscheint.
Immer mehr haben heißt immer mehr verbrauchen
Die solchermaßen sauber herausgelöste Qualität soll weiter wachsen, da sie ja ökologisch unbedenklich ist, den angestrebten Konsumnutzen erhöht und zugleich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigert. Der Nachhaltigkeitsdiskurs hat zwei Entkopplungsmythen hervorgebracht. Beide erheben den Anspruch, die qualitativen (wünschenswerten) von den quantitativen (unerwünschten) Bestandteilen der industriellen Maschinerie trennen zu können. Der erste Mythos zielt darauf, die Ressourcen effizienter zu nutzen. Der zweite ist das nahezu unbegrenzte Recycling, also die Idee, materielle Stoffkreisläufe durch Wiederverwertung ökologisch transformieren zu können.
Die angeblich gesteigerte Ressourceneffizienz kann man sich am Beispiel Passivhaus klarmachen. Solche Häuser bieten ihren Bewohnern dieselben Annehmlichkeiten wie konventionelle Wohnhäuser, verbrauchen aber nur einen Bruchteil der Wärmeenergie. Ähnliches gilt für Energiesparlampen, Dreiliterautos oder Kühlschränke, deren Energiebedarf sich – unter Beibehaltung der gewohnten Wohlstandsmerkmale – reduzieren lässt.
Neben dem technischen Fortschritt sorgen auch veränderte Arrangements von Verfügungsrechten dafür, dass eine Entkopplung theoretisch möglich erscheint. So versinnbildlicht das oft zitierte Beispiel des Carsharings ein alternatives Mobilitätssystem, in dem die Teilnehmer auf das Eigentum eines Autos verzichten und stattdessen ein befristetes Verfügungsrecht konsumieren, also den angestrebten Nutzen (Fortbewegung per Auto) in Reinform abrufen. An gefahrenen Kilometern soll indes nicht gespart werden, denn das würde dem zentralen Versprechen dieser Dienstleistungsstrategie zuwiderlaufen: Entlastung der Ökologie ohne Wohlstandsverlust.
Ein ähnliches Versprechen enthält der zweite Aspekt des Entkopplungsszenarios, der auf der – behaupteten – ökologischen Konsistenz beruht. Hier geht es, anders als bei der Effizienz, nicht um die quantitative Verringerung des materiellen Inputs, sondern um einen qualitativ veränderten industriellen Stoffwechsel. Nach dem Vorbild der Natur sollen alle materiellen Kreisläufe geschlossen, insbesondere die verwendeten Substanzen, Energieträger und Umwandlungsprozesse perfekt in die Ökologie eingebettet werden. Was biologisch abbaubar ist, zerfällt nach seiner Nutzung buchstäblich zu neuer Nahrung für die Ökologie. Auch jenseits organischer Systeme soll dieses Prinzip angewandt werden, nämlich als technische Wiederverwertbarkeit. Wenn das Design aller Produkte, Technologien und Infrastrukturen deren restlose Demontage und Wiederverwendung zuließe, entfiele nicht nur jede ökologische Belastung, sondern es entstünde sogar industrielle Nahrung für neue Wertschöpfung.
Ein derart futuristisches Ressourcenkarussell, das sich schnell genug drehen müsste, weil sonst kein Wirtschaftswachstum denkbar wäre, verbraucht allerdings viel Energie. Kein Problem, sagen seine Protagonisten, denn Wind, Sonne, Biomasse und Geothermie sind reichlich vorhanden und ökologisch konsistent, weil emissionsfrei.
Doch die Gesetze der Thermodynamik lassen sich auch in einer ausgeklügelten Dienstleistungs- oder Kreislaufwirtschaft nicht austricksen. So wie das effiziente Carsharing weiterhin Autos als „Dienstleistungserfüllungsmaschinen“ benötigt, kommt die Konsistenzstrategie nicht ohne Windkraft- und Solaranlagen aus, deren Produktion und räumliche Ausbreitung alles andere als immateriell ist. Entlastung gelingt also höchstens graduell. Der pro Wertschöpfungseinheit anfallende ökologische Verschleiß – gemessen etwa in Emissionen, Abfällen, Materialen, Wasser, Flächen und Biodiversität – mag zwar sinken, jedoch niemals auf den Wert null. Die ökologische Gesamtbilanz des Systems verbessert sich nicht, wenn Ressourcen verbrauchende Neuerungen lediglich Vorhandenes ergänzen.
Anders formuliert: Nachhaltiges Carsharing würde erfordern, dass Pkw-Besitzer ihr Fahrzeug ausrangieren, um zu Nutzern einer Dienstleistung zu werden. Unterm Strich muss sowohl die Autoproduktion als auch die Zahl der gefahrenen Kilometer sinken, um einen positiven Umwelteffekt zu haben. Wie aber soll dann das Bruttoinlandsprodukt wachsen?
Für die Bauwirtschaft würde das heißen, dass für jedes zusätzliche Passivhaus ein weniger energieeffizientes Haus abzureißen wäre. Andernfalls nähme lediglich die zu beheizende Wohnfläche zu. Doch selbst wenn ein solcher Austausch des Gebäudebestands gelingen würde, stünde dem verminderten Wachstum an neuen Gebäuden eine Zunahme an Entsorgungsfällen gegenüber.
Wohin aber mit der ausrangierten Materie in einer immer engeren Welt? Wie viel Energie wäre nötig, um Materie verschwinden zu lassen oder einer Wiederverwertung zuzuführen, zumal viele der Abfälle gar nicht kreislauffähig sind? Zudem müsste das Ausrangieren oder „Abwracken“ einen ausreichend hohen Zyklus der Neuschöpfung speisen, damit die entstehenden Umsatzerlöse für das nötige Wirtschaftswachstum sorgen – ein „Wegwerfmodus“, der wiederum zu Lasten einer ökologisch effizienten Nutzungsdauer ginge und außerdem die Rentabilität der Immobilien verringern würde.
Betrachtet man den gesamten Energieaufwand, wird deutlich, dass nur die energetische Optimierung vorhandener Gebäude – anstelle von Neubauten – die CO2-Belastung senken kann. Aber selbst eine groß angelegte Sanierungsoffensive würde nur ein begrenztes Wertschöpfungspotenzial erzielen und bestenfalls einen vorübergehenden Konjunkturimpuls auslösen. Wenn schließlich alle geeigneten Gebäude saniert sind, wird ein Bausektor in heutiger Dimension nicht mehr gebraucht. Es gäbe nur noch Bedarf für Instandhaltungsmaßnahmen, gelegentliche Renovierungen und den sporadischen Ersatz einzelner Gebäude. Dieses Szenario würde zwar eine beträchtliche CO2-Minderung bringen, aber kein Wirtschaftswachstum, sondern einen konstant niedrigen Wertschöpfungsstrom.
Noch eklatanter zeigt sich der Widerspruch zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit bei den erneuerbaren Energien: Wenn der flächendeckende Ausbau von Bio-, Solar- und Windenergieanlagen nicht mit einem gleichzeitigen Rückbau fossiler und atomarer Kraftwerke einhergeht, werden die Umweltbelastungen sogar zunehmen, weil die Produktions- und Logistikketten der neuen Anlagen zusätzlich zu Buche schlagen. Aber selbst wenn die Erneuerbaren tatsächlich zu einer absoluten CO2-Reduktion beitragen könnten, würden sie doch noch immer unversiegelte Flächen verbrauchen. Und die gehören inzwischen zu den knappsten Ressourcen überhaupt. Ihr massiver Verbrauch ist mit einer wirklich nachhaltigen Wirtschaft nicht vereinbar.
Oft wird behauptet, die gegenwärtige parallele Nutzung fossiler, atomarer und erneuerbarer Kapazitäten sei nur eine vorübergehende Phase. Das könnte sich jedoch als Irrtum erweisen. Denn durch die Erneuerbaren steigt das Elektrizitätsangebot insgesamt. In der Folge sinkt der Marktpreis für Strom, und die Nachfrage nimmt zu. Da die moderne Konsumgesellschaft darauf ausgelegt ist, immer mehr Funktionen und Gerätschaften zu mechanisieren, zu automatisieren, zu digitalisieren und damit unweigerlich zu elektrifizieren, werden sich noch mehr Menschen an einen noch energieintensiveren Lebensstil gewöhnen. Eine spätere Rückkehr auf das Verbrauchsniveau vor Einführung der Erneuerbaren würde ihnen einen Verzicht auf Konsumansprüche abverlangen. Aber dazu wird es nicht kommen, denn derlei Lebensstildebatten sind unbequem, wer dem Credo der ökologischen Modernisierung folgt, vermeidet oder verdrängt sie besser von vornherein.
Einer solchen unumkehrbaren Entwicklung wäre vorzubeugen, indem der Aufbau neuer Kapazitäten an den sofortigen – oder sogar vorherigen – Rückbau alter Energieanlagen gebunden wird. Der resultierende Wertschöpfungssaldo aus Rück- und Neubau dürfte sich kaum mit ökonomischem Wachstum vereinbaren lassen. Es kann sogar insgesamt zur Schrumpfung kommen, wenn der fossile Sektor mehr Wertschöpfung verliert als im regenerativen Sektor langfristig entstehen kann.
Es ist also falsch, anzunehmen, dass sich ökonomisches Wachstum und Ressourcenverbrauch durch Effizienz- und Konsistenzmaßnahmen entkoppeln ließe. Ganz im Gegenteil gilt, dass Effizienz und Konsistenz die Umweltbelastung nur dann senken werden, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst. „Entkopplung“ kann es nach dieser Logik nicht geben.
Abschied von der Vorstellung, das Neue wäre sicher besser
Gerade weil die sogenannte Exnovation (Beseitigung) alter Technologien und Produkte eine Voraussetzung für Nachhaltigkeit ist, lässt sich die ökologische Vorteilhaftigkeit des Wandels nicht leicht ermitteln. So wäre von den Vorteilen des Passivhauses im Vergleich zum Altbau der Ressourcenaufwand sowohl für die Entsorgung als auch für den Neubau zu subtrahieren. Noch schwieriger wird die Abwägung, weil auch alle möglichen Neben- und Spätfolgen der neuen Lösung einzukalkulieren sind. Wie soll die Verringerung von Emissionen gegen den Verbrauch von Fläche bilanziert werden? Dass dieses Dickicht aus Unwägbarkeiten unweigerlich zur Achillesferse der ökologischen Modernisierung wird, liegt an deren bedingungsloser Innovationsfixierung.
Ohne Innovation kein technischer Fortschritt. Innovation bedeutet, dass der Bestand an vorhandenen Optionen um neue Lösungen erweitert wird. Wann immer aber neue, bislang unbekannte Lösungen für den Fortschritt nutzbar gemacht werden, handelt es sich zunächst um reine Addition. Die Innovationsorientierung stemmt sich gegen jede Genügsamkeit oder Zurückhaltung, die den Selbstverwirklichungsansprüchen quantitative Grenzen setzen könnte.
Innovation verspricht unbegrenzte Elektromobilität, statt den motorisierten Individualverkehr zu verringern. Sie stellt Passivhäuser in Aussicht, statt die Menschen darauf einzustimmen, dass sie mit weniger oder demselben Wohnraum auskommen können. Sie beschwört das gigantische Wüstenstromprojekt Desertec, träumt von der Einlagerung schädlicher Treibhausgase in unterirdischen Gesteinsschichten und treibt sowohl Kernfusion als auch den Ausbau von Bioenergie und Offshore-Windparks voran, statt zu kreativem Stromsparen einzuladen – und die Hälfte aller Kohlekraftwerke einfach ersatzlos stillzulegen. Nur auf der Grundlage eines solchen expansiven Verständnisses von Innovation lässt sich eine nachhaltige Entwicklung überhaupt als wachsende Wirtschaft vorstellen.
Statt ursachenadäquat all jene Praktiken zu unterlassen, die ökologische Probleme hervorrufen, wird Nachhaltigkeit in ein Projekt des zusätzlichen Bewirkens umfunktioniert. Damit ist das Festhalten am Wachstumsdogma – in der vermeintlich ökologieverträglichen Variante – legitimiert und ein maßlos gewordenes Wohlstandsmodell gegen kulturellen Wandel geschützt. Die überfällige Diskussion über niedrigere Ansprüche und den Lebensstil erscheint obsolet.
Innovation braucht den Vorstoß ins Ungewisse. Sie sucht die unstetige, nicht lineare Veränderung und damit nachgerade den Bruch mit allem Vorhandenen und Bekannten. Weil sie neue Zusammenhänge aufdecken und nutzen wollen, entziehen sich Innovationsprozesse der genauen Prognose und Steuerung. Dabei werden – der Fortschritt hat seinen Preis – Risiken bewusst in Kauf genommen.
Die unbeabsichtigten Nebenfolgen einer Innovation zeigen sich erst, wenn ihre Verbreitung und Anwendung vollzogen ist, so dass es für vorbeugende Gegenmaßnahmen zu spät ist. Aus dem Versuch, ein Problem zu lösen, erwachsen neue Probleme an einem anderen Ort, zu einer späteren Zeit oder in einem anderen ökologischen Kontext. Dies erfordert neue innovative Gegenmaßnahmen, die ihrerseits neue Probleme schaffen, ohne die Ausgangsprobleme vollständig zu beseitigen. So entsteht ein Teufelskreis, der die Probleme systematisch von der Gegenwart in die Zukunft verschiebt.
Auch die ökologische Modernisierung krankt daran, dass zwischen der Reichweite innovativer Vorstöße und dem Wissen über mögliche Spätfolgen ein immer tiefer werdender, unüberbrückbarer Graben klafft. Dies lehrt etwa das Desaster der Biotreibstoffe, deren Anbau der Umwelt mehr schadet als nützt und in vielen Ländern den auf Subsistenzlandwirtschaft angewiesenen Kleinbauern ihre Existenzgrundlage raubt. Ähnliches gilt für die Informations- und Kommunikationstechnologien, wo nach all den digitalen Verheißungen schon bald ein böses Erwachen droht: Gigantische Mengen von Elektroschrott, neue Energiefresser, steigende Strahlenbelastungen sowie Kriege um afrikanisches Coltan sind die sichtbarsten Folgen.
Der innovationsgetriebene Fortschritt – auch der zwecks Nachhaltigkeit forcierte – löst soziale und kulturelle Veränderungen aus, die im vorhinein schwer einzuschätzen, oft kontraproduktiv und außerdem unkorrigierbar sind. Vor allem aber ist die Innovationsorientierung im Kern strukturkonservativ. Umweltfreundliche Produkte und Technologien wie der Dreiwegekatalysator, der Hybridantrieb, der Brennstoffzellenantrieb oder die Elektromobilität immunisieren maßlose Mobilitätsansprüche gegen jede Kritik. Passivhäuser legitimieren das unausgesprochene „Menschenrecht“, nach Lust und Laune Einfamilienhäuser in die Landschaft zu bauen. Und dass die Erneuerbaren emissionsfrei sind, wird als Rechtfertigung herangezogen, um unbequemes Energiesparen zu vermeiden.
Angenommen, es würde sich herausstellen, dass Mobilfunk als Teil jener digitalen Revolution, der einst hohe Dematerialisierungspotenziale zugetraut wurden, doch krebserregend ist. Wie könnte dann die Handykommunikation, von der sich die Menschheit inzwischen vollständig abhängig gemacht hat, unterbunden werden? Das mobile Telefon ist längst Teil der Alltagskultur, keine Macht der Welt könnte es per Rückrufaktion wieder aus dem Verkehr ziehen. Es bliebe nur eine nächste Innovationswelle, die wie ein Gegengift die negativen Folgen der vorherigen Technologie neutralisieren würde – ohne diese zu entfernen.
„Unter dem Imperativ der Innovation werden Gegenwartskrisen niemals aus begangenen Irrtümern oder Fehlentscheidungen erklärt. Krisen sind in dieser Lesart immer und ausschließlich Resultat eines Novitätsmankos. Wer in der Krise steckt, ist nicht modern genug. Punktum. Für die Innovateure liegt die Rettung in der Zukunft des Nie-Dagewesenen. Jede Besinnung, jedes Innehalten, jedes Zögern ist darum verlorene Zeit, geradezu Sabotage gegen die vorwärts weisenden Rettungsbemühungen“, so Marianne Gronemeyer in ihrem Buch „Immer wieder neu oder ewig das Gleiche“.
Diese Argumentationsfigur macht es möglich, am Mythos von der Entkopplung trotz seines nicht zufälligen, sondern systematischen Scheiterns unbeirrt festzuhalten. In dieser Logik ist jede fehlgeschlagene Modernisierungsphase nur ein weiterer Beweis dafür, dass die richtigen Innovationen eben noch nicht entwickelt wurden oder dass die bisherigen Innovationsanstrengungen nicht stark genug waren.
Mit Nachhaltigkeitszielen lässt sich der zunehmende Konsum- und Mobilitätswohlstand inzwischen kaum noch vereinbaren. Folglich müssen immer dramatischere Effizienz- oder Konsistenzvisionen herbeikonstruiert werden, um wenigstens die theoretische Möglichkeit einer Entkopplung aufrechtzuerhalten. Sogenannte Zukunftsprojekte wie etwa Desertec oder eine Steigerung der Ressourcenproduktivität um den Faktor 10 muten da wie Science-Fiction an. Sie rechtfertigen das Festhalten am Entkopplungs- und Wachstumsparadigma – und überantworten das Schicksal unseres Planeten samt der auf ihm lebenden Menschheit einem technologischen Fortschritt, der noch gar nicht eingetreten ist und dessen künftiges Eintreten nur erhofft, beschworen oder geglaubt werden kann. Na dann: halleluja!
Nachhaltige Entwicklung kann indes nur eine Kunst der Reduktion sein. Deshalb zielt eine Postwachstumsökonomie darauf, Expansionszwänge zu überwinden. Der wichtigste besteht in einem Lebensstil, der vollständig von geldvermittelter und global arbeitsteiliger Fremdversorgung abhängig ist. Wenn Bedürfnisse, die einst durch Handwerk, Eigenarbeit, Subsistenz, lokale Versorgung und soziale Netzwerke befriedigt wurden – oder auf deren Befriedigung man schlicht verzichtete -, durch käufliche Produkte, Dienstleistungen und eine komfortable Automatisierung/Mechanisierung erfüllt werden, ist die Existenzsicherung einer Geld speienden Wachstumsmaschine ausgeliefert.
Mit zunehmender Spezialisierung, die eine immer größere Distanz zwischen Verbrauch und Produktion schafft, steigt die Anzahl der Wertschöpfungsstufen, deren Investitions- und Kapitalbedarf zur Notwendigkeit ökonomischen Wachstums beiträgt. Eine Postwachstumsökonomie beginnt daher mit einer Genügsamkeitsstrategie. Sie konfrontiert die verzweifelte Suche nach weiteren Steigerungen von Güterwohlstand mit einer Gegenfrage: Welcher Plunder, der nur wachstumsabhängig macht, ließe sich über Bord werfen?
Der zweite Schritt bestünde in einer Reaktivierung nichtkommerzieller Versorgung: Eigenarbeit, handwerkliche Fähigkeiten, (urbane) Subsistenz, Community-Gärten, Tauschringe, Netzwerke der Nachbarschaftshilfe, Verschenkmärkte, gemeinschaftliche Nutzung von Geräten sowie regionale Kreisläufe auf Basis zinslos umlaufgesicherter Komplementärwährungen würden zu einer graduellen Deglobalisierung verhelfen.
Würden diese Strategien mit einer Halbierung der durchschnittlichen Erwerbsarbeit kombiniert, bräuchte der auf Geldwirtschaft und industrieller Arbeitsteilung basierende Komplex nur noch halb so groß zu sein. Zudem wäre er so umzugestalten, dass die Neuproduktion von Gütern eine eher untergeordnete Rolle spielte. Der Fokus läge auf dem Erhalt, der Um- und Aufwertung vorhandener Produktbestände und Infrastrukturen und auf der längeren und intensiveren Nutzung von Gegenständen. Zudem wären Elemente einer Geld- und Bodenreform sowie die Einführung individueller Kohlendioxidbilanzen notwendig.
Eine derartige Postwachstumsökonomie wäre genügsamer, aber auch stabiler und ökologisch weitaus verträglicher. Und sie würde auch die vielen Menschen entlasten, denen im Hamsterrad der materiellen Selbstverwirklichung schon ganz schwindelig wird.
Niko Paech ist Wirtschaftswissenschaftler am Lehrstuhl Produktion und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Aus: Le Monde diplomatique Nr. 9288 vom 10.9.2010. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Schlagwörter: Bruttoinlandsprodukt, Club of Rome, Nachhaltigkeit, Niko Paech, Ressourcen, Wirtschaftswachstum, Wohlstand