von Roberto J. De Lapuente
Zweierlei Tendenzen würgen uns in diesen Tagen. Die eine nimmt aus Stuttgart ihren Weg, begehrt mehr Demokratie, mehr direkte Beteiligung an der Entscheidungsfindung – die andere dokumentiert in Gestalt einer Studie der in Bonn verorteten Friedrich-Ebert-Stiftung das wachsende öffentliche Verlangen, dass die öffentliche Hand besser griffe, wäre sie die Hand eines starken Mannes. Die Politik müsse wieder näher zum Volk finden, heißt es hier; ein Führer, der mit starker Faust Deutschland regierte, täte Not, vernimmt man von dort. Hier: das Volk muss auf die Straße, damit die Politik es endlich wieder wahrnimmt; dort: unter Umständen ist eine Diktatur die bessere Staatsform.
Glotzte man an dem Tag, da die erschreckende Studie aus Bonn das Schummerlicht der Öffentlichkeit erblickte, in den Flimmerkasten, so konnte man sehr getragene, manchmal sogar finstere Mienen sehen, die von der Diktaturbereitschaft und der wachsenden Ausländerfeindlichkeit einer breiten Masse der Bundesbürger berichteten. Wechselte man dann den Sender, landete in Stuttgart, so konnte man weitere sehr getragene, weitere manchmal sogar noch finsterere Gesichter begutachten, die dartaten, dass nun soundsoviel Prozent der Bürger meinten, jetzt sei endlich der Augenblick der Basisdemokratie gekommen. Diktatur oder Basisdemokratie! Zwei gegensätzliche Tendenzen, die eigentlich, selbst mit viel Phantasie, nur schwerlich zu verquicken sind.
Da steht eine Gesellschaft orientierungslos in der Landschaft herum. Laviert zwischen „Mehr Demokratie wagen!“ und „Führer befiehl!“ und hätte womöglich sogar am liebsten beide Optionen gleichzeitig. Heute Plebiszit zu gestalterischen Themen, zum Erhalt eines Bahnhofs beispielsweise, morgen einen Despoten, der die Gesellschaft endlich vom Gesocks reinigt; hier Mitspracherecht und basisdemokratisches Ausdiskutieren, dort kurzer Prozess, Ausweisung oder Zwangsarbeit. Alles je nach Bedarf, je nach Laune und Nutzen! Weshalb denn so rückständig sein wollen, nur einer Maxime zu folgen, wenn man doch beides haben könnte?
So entgegengesetzt sind die beiden Tendenzen vielleicht auch gar nicht. Befragt man quasi basisdemokratisch einen repräsentativen Schnitt dieser Gesellschaft, was der von Moslems hält, so bekommt man meterhohe Mehrheiten für Ausweisung oder für Zwangsassimilierung serviert. Fragte man also demokratisch legitimiert, würde man dieses Mehr an Demokratie also wagen: man bräuchte keine Diktatur mehr, um das Diktat perfekt zu machen. Wer dieser Tage mehr Demokratie wagte, nicht nur in Stuttgart, sondern als allgemeinverbindliches Projekt für sämtliche politische Strukturen dieses Landes, der würde sich die Augen aber reiben: der dürfte eine Diktatur begrüßen, ein bürgerliches Jakobinertum, das alles ausmerzen würde, was man hierzulande für nicht mehr duldenswert hielte. Ausländer, Muslime, Arbeitslose, Senioren, Alleinerziehende, Linke: Gäbe es heute, in diesen Zeiten säuberlich von Bertelsmann und Springer und Burda abgerichteter Bürger aus der Gesellschaftsmitte, mehr Basisdemokratie – es gäbe auch ganz schnell mehr Diktatur!
Freilich sind Volksbefragungen eine nette Spielerei, wenn es darum geht, Bahnhofsmissionen zu stoppen – aber mancher schlürfte seine Erbsensuppe in einer Bahnhofsmission, sollte dieses Prinzip plötzlich universell angewandt werden. Neun von zehn Befragten vertreten in der Stuttgarter Angelegenheit die Ansicht, die Politik müsse wieder das umsetzen, was das Volk wolle – Annäherung an das Volk nennen sie das. An sich ja richtig; nur was machen wir dann mit den sozialrassistischen Forderungen, die manche Tageszeitung von über neunzig Prozent ihrer Leser bejahend beantwortet bekommen? Auch da Annäherung? Die Bahnhofsmission der Bonzen aufhalten und gleichzeitig dem unliebsamen Gesocks einen Besuch in der Bahnhofsmission verpassen? „Wir wollen keinen U-Bahnhof!“ und gleichzeitig „Moslems raus!“: ist das eher basisdemokratisch oder dann doch Diktatur?
Beide Tendenzen, gleichen sich insofern. In einer Gesellschaft, in der der Extremismus in der Mitte angelangt ist, ist er allerdings nicht mehr extremus, das Äußerste also, sondern er ist mittig, mittendrin statt nur randständig – er ist in medias respublica. Der Begriff sei trotzdem aus Gewohnheit beibehalten: In einer Gesellschaft, in der der Extremismus in der Mitte angelangt ist, da spielt es eigentlich keine Rolle mehr, ob man „Mehr Demokratie wagen!“ oder „Führer befiehl!“ wünscht. Es läuft auf dasselbe hinaus.
Entweder man gibt einem Volk, das sich mehrheitlich für Ausweisung von Muslimen oder Zwangsarbeit für Arbeitslose ausspricht, mehr Demokratie – oder es will jemanden, der solcherlei Konzepte diktatorisch und ohne Rücksicht auf das Grundgesetz und die Mitmenschlichkeit umsetzt. Da ist man ganz pragmatisch! Entweder mehr Mitbestimmung, damit man sich einen Diktator spart – oder einen Diktator, damit man sich dieses leidige Abstimmen schenken kann…
Schlagwörter: Basisdemokratie, Demokratie, Diktatur, Friedrich-Ebert-Stiftung, Führer, Roberto J. De Lapuente, Stuttgart